Zwei WM-Kontrahenten sitzen nach dem Match nebeneinander, besprechen ihre Weltmeisterschaftspartien, erinnern sich an Stellungen, Versäumnisse, Gefühle am Brett – und tun das öffentlich, live im Stream. So etwas hat es in der knapp 150-jährigen Geschichte des Schachs nicht gegeben. Bis jetzt.
Stellen wir uns das vor: Emanuel Lasker und Siegbert Tarrasch, nebeneinander, diskutierend über ihr WM-Match von 1908. Tarrasch bemängelt seine passive Stellung, Lasker erinnert sich an seine zähe Verteidigung. Oder Bobby Fischer und Boris Spasski, Schulter an Schulter, lachend über Fischers …Lxh2 und die hektische Suche nach zwei passenden WM-Stühlen für das Match des Jahrhunderts. Kaum vorstellbar. Anatoli Karpow und Viktor Kortschnoi, gemeinsam in einem Raum, parlierend über das Match von Baguio City. Wäre tolles TV gewesen, aber undenkbar.

Karpow und Kasparow? Ja, dem Spiegel ist es 1990 gelungen, beide vor ihrem fünften WM-Match zu einem “gemeinsamen” Interview zu bewegen. Zumindest wurde es als solches veröffentlicht. Es hatte auch das gemeinsame Interview mit den verfeindeten Ks gegeben, aber das war wenig ergiebig – im Gegensatz zu den Einzelgesprächen, die Spiegel-Redakteur Werner Harenberg mit beiden Kontrahenten geführt hat. Das veröffentlichte “Interview” besteht in weiten Teilen aus von Harenberg zu einem Dreier-Gespräch arrangierten Zitaten, die Karpow und Kasparow im Einzelgespräch gemacht hatten. Chessbase-Mitgründer Frederic Friedel hat 2014 anlässlich Harenbergs Tod von den Mühen berichtet, die der Journalist auf sich nahm, bis Karpow schließlich die am 30. September veröffentlichte Version des Gesprächs autorisierte. “Die Story war eines der Highlights der Spiegel-Berichte über Schach”, schreibt Friedel.
Zwischen den WM-Gegnern von 2018, Magnus Carlsen und Fabiano Caruana, klaffen keine Gräben wie zwischen den Ks der Schachgeschichte. Der Norweger und der US-Amerikaner sind einander in freundschaftlicher Rivalität und gegenseitigem Respekt verbunden. Vor der Kamera analysieren sie ihre Partien, scherzen über verpasste Chancen, erinnern sich an psychologische Druckmomente und sprechen offen über Vorbereitung und Nervosität.
Was Carlsen und Caruana liefern, geht weit über Schachunterhaltung hinaus. Substanzielle Analyse und ein Stück Schachgeschichte, verewigt im Stream. Zwei Rivalen, die offen über ihre Kämpfe sprechen – und gleichzeitig das nächste Kapitel vorbereiten. Carlsen und Caruana werfen auch einen detaillierten Blick auf das kommende Freestyle-Turnier in Paris. Und liefern im Zwiegespräch Einsichten, die Interviewer ihnen kaum entlocken könnten.
Den Anfang macht die erste Partie der WM 2018. Der Rossolimo, der schließlich zum langen Endspiel verflachte, war eine vertane Chance für Carlsen – das weiß er heute noch genau. „Ich war sicher, dass ich gewinne“, sagt Magnus. „Ich war auf Zeit vorne, hatte alles unter Kontrolle.“ Caruana gibt zu: „Ich dachte, ich bin verloren. Aber irgendwie hatte ich immer noch Hoffnung.“ – Remis nach 115 Zügen.
Die beiden gehen Züge durch, erinnern sich an Varianten, an verworfene Ideen. Carlsen ärgert sich, dass er an einer Stelle nicht präzise war: „Da habe ich die Partie aus der Hand gegeben.“ Caruana antwortet: „Und ich war überrascht, wie viel Druck du aufbauen konntest – es hörte einfach nicht auf.“
Ehrlich, detailliert, direkt – diese Art der gemeinsamen Analyse ist neu. Ja, vor einem PR-Hintergrund, organisiert vom esports-Team “Liquid”, aber frei von schlechtem Sportmarketingsprech und den damit verbundenen Klischees, mit denen nicht nur chess.com das Publikum langweilt: insane, gripping, intense, thrilling, amazing, exciting, fireworks, action-packed, edge-of-your-seat, electrifying, nerve-racking, breathtaking, heart-stopping, mind-blowing, epic? Kommt nicht vor, thank god. Statt flacher Etiketten authentische Geschichten, Harmonie zwischen zwei Giganten, die einander im Austausch auf Augenhöhe begegnen. Schachlich keine leichte Kost, umso mehr ein Leckerbissen fürs geneigte Fachpublikum.
Im Laufe des Streams analysieren die beiden mehrere Partien aus dem WM-Match. Immer wieder blitzt der gegenseitige Respekt durch – und Frust über verpasste Chancen. Carlsen: „Ich habe das gespielt, obwohl ich wusste, dass es Unsinn ist. Aber ich war im Tunnel.“ Caruana: „Ich hätte das halten können – aber ich hatte einfach keinen Plan mehr.“ Das Video zeigt, wie sehr das Match 2018 beide geprägt hat – obwohl es aus zwölf unentschiedenen Partien bestand. „Die Qualität war trotzdem hoch“, sagt Carlsen. „Viele sagen, es war langweilig – aber das war es nicht.“
Freestyle in Paris: „Ein schlechter Tag – und du bist raus“
Neben dem Blick zurück dominiert der Blick nach vorn: das Freestyle-Turnier in Paris, das beide als Teilnehmer bestreiten werden. Die Vorrunde – zwei Tage Schnellschach als Rundenturnier – sorgt für Ungewissheit. „Es reicht ein schlechter Tag, und du bist draußen“, sagt Carlsen. „Das ist ein hartes Format.“ Caruana ergänzt: „Minus 1 reicht wahrscheinlich gerade so zum Weiterkommen. Minus 2 wird eng – dann musst du auf Schützenhilfe hoffen.“


Beide analysieren das Teilnehmerfeld akribisch – und geben Einschätzungen ab, wer es ins Viertelfinale schafft. Unter anderem Weltmeister Gukesh sehen beide, wahrscheinlich auch wegen dessen bescheidener Vorstellung in Weissenhaus, als gefährdet, die Vorrunde nicht zu überstehen. Vidit, Frischvermählter, sorgt für Diskussion. Carlsen lacht: „Was sagt es über deine Ehe aus, wenn du auf deiner Hochzeitsreise ein Freestyle-Turnier spielst?“ An dieser Stelle hätte sich ein süffisanter Konter angeboten, da Carlsen sogar seine Hochzeitsnacht genutzt hat, um Schach zu spielen. In den Tagen danach gab es für die Eheleute Carlsen keine Flitterwochen, sondern einen Ausflug nach Tyskland zum Bundesliga-Schach.

In Sachen Vidit glaubt Caruana jedenfalls, dass der Frischvermählte eine gute Leistung abliefern wird: „Ich glaube, er ist in guter Stimmung. Das kann helfen. Er war sehr stark in der Quali.“ Das glaubt auch Vidit. Zwar habe er sich kaum vorbereitet, aber er sei glücklich und voller Energie, hat der Inder seit seinem Sieg in der Online-Qualifkation mehrfach erklärt.
Vielleicht ist es ein Psychospielchen vor dem Wettbewerb, aber Carlsen und Keymer sehen Vincent Keymer als Favorit – wenn es Keymer denn ins Viertelfinale schafft. „Er hat uns in Weissenhaus überrannt“, sagt Magnus. „Ich glaube, er versteht das Format einfach besser. “ Carlsen hält es für möglich, “dass er uns wieder davonrennt”. Aber Caruana warnt: „Diesmal wird er ernst genommen. Es gibt keine Überraschung mehr.“ Carlsen und Caruana, bei allem Respekt vor Keymers klassischer Vorstellung in Weissenhaus, sehen auch den Deutschen als einen der Kandidaten, der die Rapid-Vorrunde nicht überstehen könnte.