„Es gibt etliche Länder, in denen die Bedingungen für Schachspieler besser sind als in Deutschland.“ Mit dieser offenen Einschätzung, nicht zum ersten Mal geäußert, gibt Vincent Keymer im Interview mit Matthias Wolf vom Deutschen Schachbund eine ernüchternde Bestandsaufnahme. Deutschlands Nummer eins spricht über seine wachsende Bekanntheit, die Rolle von Freestyle-Turnieren und seine Ziele im traditionellen Schach.
Zuletzt war Keymers Wunderkind-Bonus versiegt, die öffentliche Aufmerksamkeit für Deutschlands Besten ließ nach. Aber seit seinem Sieg beim ersten Freestyle Grand Slam in Weissenhaus, verbunden mit einem Preisgeld von 200.000 Dollar, steht er wieder im Rampenlicht. „Es fühlt sich so an, als würde öffentliches Interesse wiederum weiteres Interesse erzeugen“, sagt er. Interviewanfragen, Medientermine, neue Formate – Keymers Alltag hat sich verändert. Viel Zeit bleibt nicht zwischen den Turnieren.
Trotzdem hat er klare Prioritäten. Freestyle sei für ihn „eine willkommene Ergänzung“, aber kein Ersatz für das traditionelle Schach. Die fehlende Eröffnungsvorbereitung mache den Reiz aus: „Ich gehe zur Partie frischer ans Brett.“ Die hohen Preisgelder seien hilfreich, aber das bleibe Nebensache. Vielmehr diene die neue Turnierform dem Ziel, Schach sichtbarer und populärer zu machen, ein Ziel, das Keymer unterstützt. Von einem Rückzug aus dem traditionellen Schach, wie ihn etwa Hikaru Nakamura andeutet, will Keymer nichts wissen: „Ich wünsche mir, dass beides nebeneinander existiert.“
Sportlich bleibt der Fokus auf dem Kandidatenturnier, ein großes Ziel seiner Karriere. Gemeinsam mit seinem Trainer Peter Leko, der ihn seit seinem 13. Lebensjahr betreut, wählt Keymer Turniere gezielt aus. Auch wegen der Kandidaten-Perspektive spielt Keymer in diesem Jahr die Deutsche Meisterschaft in München. Es gehe um wichtige FIDE-Circuit-Punkte – und um die Gelegenheit, gegen starke nationale Konkurrenz anzutreten.
Keymer erwartet in München keinen einfachen Durchmarsch, dafür sei die Konkurrenz zu stark. Matthias Blübaums Kampf um die Europameisterschaft verfolgt Keymer gespannt. Blübaum und Frederik Svane traut er generell viel zu. Er freue sich über jeden Elo-Fortschritt seiner Kollegen, sagt Keymer.
Was seinen Weg in die Weltspitze angeht, bleibt Keymer vorsichtig. Top Ten? „Ich wünsche es mir, und ich arbeite dafür.“ Aber wann das klappen könne, sei schwer zu sagen. Jede Fehleranalyse nach Turnieren zeige neue, andere Ergebnisse. Es gebe viele kleine Stellschrauben, an denen er arbeiten müsse.
Vor all der Arbeit am Brett und abseits davon ist ein richtiger Urlaub 2025 kaum drin. Die Freestyle-Tour, die Deutsche Meisterschaft, das Grand Swiss, der World Cup – der Kalender ist voll. Regeneration ja, aber wie genau er regenerieren will, das weiß Keymer noch nicht.
(Titelfoto: Petr Vrabec/Prager Schachfestival)