Schach, Fenster zur Freiheit

Die Geschichte beginnt mit einem Hinweis, den Spiegel-Reporter Alexander Smoltczyk zufällig in einer Schachkolumne entdeckt hatte: Ein Team aus dem kenianischen Flüchtlingslager Kakuma hatte sich für die Schacholympiade in Budapest qualifiziert. Kakuma, ein Lager mitten im Nichts, ohne Hoffnung und Perspektiven – ausgerechnet dort sollte das königliche Spiel Fuß gefasst haben? Smoltczyk, fasziniert und skeptisch zugleich, reiste nach Kenia, um dieser Spur nachzugehen. Was er fand, lässt sich auf fünf Seiten in der neuen Ausgabe des Spiegel nachlesen.

Kakuma-Schach-Reportage im neuen Spiegel mit Fotos von Stev Bonhage (für Abonnenten).

Kakuma (Wikipedia), 1992 als provisorisches Auffanglager eingerichtet, beherbergt inzwischen mehr als 270.000 Geflüchtete aus den Krisengebieten Ostafrikas, überwiegend aus dem Südsudan. Es ist ein Ort ohne Zukunft, ein Wartesaal ohne Ausgang. Genau hier hat sich Schach als Symbol von Freiheit und Selbstbestimmung durchgesetzt.

Die 17-jährige Rebecca Jokudu Lino ist eine der Protagonistinnen in Smoltczyks Reportage. Sie kam als Kind aus dem Südsudan nach Kakuma. Sie liebt die Dame, weil diese Figur alles darf – während sie selbst nahezu nichts darf. Rebecca ist Teil des Olympiateams von Kakuma. Schach bedeutet für sie die seltene Möglichkeit, etwas zu entscheiden, etwas zu riskieren und Probleme zu lösen, die sie bewältigen kann.

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Die Idee, Schach ins Flüchtlingslager zu bringen, entstand 2021 durch Anastasia Sorokina und Dana Reizniece-Ozola, zwei Frauen im Weltschachverband FIDE. Ihr Projekt »Chess for Protection« sollte Menschen, die alles verloren haben, Hoffnung geben – zumindest auf 64 Quadraten eines Schachbretts.

Unter den Trainern ist Sergejs Klimakovs, ein lettischer Schachmeister, der Kakuma besucht, um Talente wie Rebecca zu fördern. Trotz anfänglicher Skepsis erkannte Klimakovs bald das Talent und die erstaunliche Intuition der Spielerinnen und Spieler in Kakuma: »Ich habe so etwas noch nie gesehen, in keiner Region der Welt«, erzählt er.

Doch die Wirklichkeit des Lebens in Kakuma ist hart. Das Lager ist hermetisch abgeriegelt, es gibt kaum Wasser, wenig Nahrung und keine medizinische Versorgung. Als Klimakovs im März für Trainingsstunden ins Lager kam, brachen Hungerproteste aus, die Polizei setzte Tränengas und Gummigeschosse ein – die Schachstunden wurden vorerst abgesagt.

Alaak Pager, ein Englischlehrer und Koordinator des Schachprojekts, beschreibt Schach als lebenswichtige Ablenkung, die ihn und andere vor Verzweiflung bewahrt: »Es hat mich verändert und vielleicht gerettet.« Doch als das Team aus Kakuma tatsächlich die Chance bekam, an der Schacholympiade in Budapest teilzunehmen, scheiterte es an bürokratischen Hürden. Die Visa kamen nicht rechtzeitig, die Mannschaft musste zu Hause bleiben.

Trotzdem erkämpften sich die Schachspieler aus Kakuma in Nairobi einen bemerkenswerten Erfolg: Bei der ostafrikanischen Meisterschaft, für die sie spontan angemeldet wurden, schlugen sie überraschend deutlich etablierte Gegner. Der Mopedtaxi-Fahrer Chol March, Kakumas bester Schachspieler, erreichte sogar den zweiten Platz.

Für Smoltczyk zeigt diese Geschichte, wie bedeutend Schach an einem solchen Ort sein kann. In Kakuma sei Schach kein Luxus, sondern existenziell: eine kleine Welt, in der es um Entscheidungen, Verantwortung und Selbstbestimmung geht. Genau das, was in der Realität des Flüchtlingslagers unerreichbar scheint.

Perlen-Gespräch mit Stev Bonhage während des Kandidatenturniers 2022, das erste Engagement des Fotokünstlers im Schach.
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