Aaron Nimzowitsch war ein Kind der romantischen Schachschule. Er liebte wilde Angriffe und opferreiche Kombinationen, wie es die großen Meister des 19. Jahrhunderts vorgemacht hatten. Doch mit der Zeit stellte er fest, dass Angreifen und Kombinieren nur erfolgreich funktioniert, wenn die Stellung einen Angriff rechtfertigt, ein klassisches Steinitz-Prinzip, das Nimzowitsch übernahm – und doch neue Wege ging. Nimzowitsch scheute sich nie, Dogmen und vermeintlich Allgemeingültiges zu hinterfragen, im Gegenteil. Mit Hingabe suchte er nach neuen Prinzipien, mit denen sich auf dem Brett Kontrolle und strategische Überlegenheit ausspielen lassen.

Die Anfänge in Riga
Geboren am 7. November 1886 in Riga, damals Teil des Russischen Reichs, wuchs Aaron Isaïewitsch Nimzowitsch in einer wohlhabenden Familie auf. Sein Vater, ein angesehener Großhändler, war ein strenger, aber gebildeter Mann, der Diskussionen und logisches Denken schätzte.
Er war es, der dem achtjährigen Aaron als Belohnung für einen schulischen Erfolg die berühmte Unsterbliche Partie von Adolf Anderssen zeigte. Nimzowitsch war sofort fasziniert: „Nicht nur verstand ich sie sofort, ich verliebte mich augenblicklich leidenschaftlich in das Schach.“ Schon als er neun war, veröffentlichte die lokale Tageszeitung eine seiner Partien.
Berlin und der Konflikt mit Tarrasch
1902 reiste Nimzowitsch erstmals nach Königsberg, um sich mit stärkeren Gegnern zu messen – gegen den Willen seines Vater, der wollte, dass Nimzowitsch junior ein Universitätsstudium aufnimmt. Aaron jedoch zog 1903 nach Berlin, um sich ganz dem Schach zu widmen. Im legendären Kaiserhof spielte er täglich gegen Größen wie Ossip Bernstein, Alexander Blumenfeld und Curt von Bardeleben.
Das Café Kaiserhof des gleichnamigen Hotels am Wilhelmplatz, dem damaligen Regierungsviertel Berlins, war ein Schachzentrum der damaligen Zeit. Emanuel Lasker, Siegbert Tarrasch verkehrten dort – und eben lokale Schachgrößen wie von Bardeleben oder Wilhelm Cohn.
In diesem Umfeld kam Nimzowitsch mit den klassischen Prinzipien des Schachs in Kontakt – und begann, sie herauszufordern. Doch zunächst fehlte ihm die Erfahrung. Er war ein brillanter Taktiker, aber wenn keine direkten Kombinationen möglich waren, fühlte er sich oft verloren. Dies führte ihn zu einem tiefen Nachdenken über die strategischen Grundlagen des Spiels.
Ein Wendepunkt in seiner Karriere war das Turnier in Coburg 1904. Nimzowitsch belegte einen respektablen sechsten Platz, doch noch bedeutender war eine Begegnung mit Siegbert Tarrasch, dem führenden Theoretiker jener Zeit. Nach nur zehn Zügen einer Partie erklärte Tarrasch lautstark: „Ich habe noch nie in meinem Leben so schnell eine gewonnene Stellung erreicht!“
Diese Bemerkung war für Nimzowitsch eine Demütigung – und ein Weckruf. Er begann, Tarraschs Dogmen infrage zu stellen und suchte nach Alternativen zur klassischen Lehre. Der Konflikt mit dem “Lehrmeister der Deutschen” sollte ihn sein Leben lang begleiten.
Suche nach einem neuen Stil
1906 gewann Nimzowitsch erstmals ein größeres Turnier in München. Er hatte endgültig beschlossen, Schachprofi zu werden. In den folgenden Jahren spielte er bei wichtigen Turnieren mit wechselndem Erfolg:
- 1907 in Ostende erzielte er gute Ergebnisse, blieb aber noch hinter den Spitzenleuten zurück.
- 1910 wurde er Dritter in Hamburg.
- 1911 belegte er Platz fünf in San Sebastián – ein Turnier, das der junge José Raúl Capablanca sensationell gewann.
- 1913 gewann er gemeinsam mit Alexander Aljechin die russische Meisterschaft.
Doch der ganz große Durchbruch blieb aus. Sein Spielstil war noch nicht vollständig ausgereift. Er wusste, dass er eine neue Herangehensweise brauchte, um die besten Spieler der Welt zu schlagen.
Der Erste Weltkrieg: Isolation und Reflexion
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs brachte das internationale Schachleben weitgehend zum Stillstand. Für Nimzowitsch bedeutete dies eine Zeit der Reflexion. Er lebte in Riga, während sich die politische Lage dramatisch veränderte.
Nach der deutschen Besatzung von 1915 wurde Lettland zum Spielball der Großmächte. 1919 verließ Nimzowitsch Riga endgültig. Er suchte Zuflucht in Schweden. Eine Fotografie aus dieser Zeit zeigt ihn eingefallen, mit tiefen Sorgenfalten im Gesicht. Sein erster Auftritt nach dem Krieg, das Turnier in Göteborg 1920, endete katastrophal – er landete auf dem vorletzten Platz.
Doch die schwierigen Jahre hatten ihn innerlich gefestigt. Er hatte eine neue Strategie erdacht, die er nun in die Praxis umsetzen wollte.
Blütezeit: Nimzowitschs Schachrevolution
1922 ließ sich Nimzowitsch endgültig in Kopenhagen nieder. Hier begann er, seine hypermodernen Schachideen weiterzuentwickeln und sie in die Welt zu tragen.
Seine besten Turnierergebnisse folgten:
- 1925 gewann er in Marienbad gemeinsam mit Rubinstein.
- 1926 feierte er seinen größten Einzelsieg in Dresden, wo er mit 1,5 Punkten Vorsprung auf Aljechin gewann.
- 1929 triumphierte er in Karlsbad vor Capablanca, Rubinstein und Bogoljubow.
Diese Jahre etablierten ihn als einen der besten Spieler der Welt. Seine wahre Revolution geschah nicht nur auf dem Schachbrett, sondern in der Theorie. 1925 veröffentlichte er Mein System, eines der einflussreichsten Schachbücher jemals. Darin stellte er neue Konzepte vor bzw. bereitete Bekanntes neu auf:
- Prophylaxe: Das Verhindern gegnerischer Pläne ist genauso wichtig wie das eigene Vorankommen.
- Blockade: Ein Bauer kann nicht ziehen, wenn er blockiert wird – also sollte man die gegnerischen Bauern kontrollieren, anstatt sie sofort anzugreifen.
- Flexibles Zentrum: Statt das Zentrum mit Bauern zu besetzen, kann man es mit Figuren kontrollieren und auf den richtigen Moment für einen Durchbruch warten.
Seine Ideen waren revolutionär – aber nicht unumstritten. Viele klassische Spieler, insbesondere Tarrasch, hielten sie für „hässlich“ oder „unnatürlich“. Doch Nimzowitsch bewies ihre Wirksamkeit in der Praxis – ebenso wie der angehende Weltmeister Alexander Aljechin. Der sah sich offiziell nicht als Teil einer hypermodernen Revolution und soll die hypermoderne Denkschule sogar als “billigen Bluff” und “schamlose Selbstdarstellung” bezeichnet haben. Seine Partien zeigen jedoch, dass er diverse Ideen von Nimzowitsch, Richard Reti oder Ernst Grünfeld erfolgreich seinem Stil hinzufügte.

Karriereende und Tod
Ab 1931 ließ seine Turnierstärke allmählich nach. Zwar spielte er noch einige respektable Matches gegen junge Talente wie Gideon Stahlberg, doch es wurde deutlich, dass seine beste Zeit vorbei war.
Im Dezember 1934 wurde Nimzowitsch schwer krank. Eine Lungenentzündung zwang ihn ins Krankenhaus, später in ein Sanatorium in Kopenhagen. Am 16. März 1935 starb er mit nur 48 Jahren. Seit 1980 teilt er sich ein Grab mit dem dänischen Schachmeister Jens Enevoldsen.

Vermächtnis: Vater des hypermodernen Schachs
Nimzowitsch blieb zeitlebens eine umstrittene Figur. Er war exzentrisch, launisch, oft arrogant – aber auch ein brillanter Denker, der die Schachwelt nachhaltig veränderte. Sein Beitrag zum Schach ist unbestreitbar:
- Er revolutionierte das Positionsspiel.
- Er brach mit dogmatischen Prinzipien und entwickelte neue strategische Konzepte.
- Seine Nimzo-Indische Verteidigung bleibt eine der populärsten Eröffnungen der Welt.
Weite Teile dieses Beitrags basieren auf einem Nimzowitsch-Zweiteiler, erschienen 1985 in der Éurope Echecs:
https://www.europe-echecs.com/art/aron-nimzowitsch-1-2-1022.html
https://www.europe-echecs.com/art/aron-nimzowitsch-2-2-1023.html