1913 eskalierte Aaron Nimzowitsch eine der berühmtesten Fehden in der Schachgeschichte. In der Wiener Schachzeitung attackierte er den etablierten Theoretiker Siegbert Tarrasch, dessen neues Buch Die moderne Schachpartie gerade erschienen war. Für Nimzowitsch war daran nichts modern, im Gegenteil: „Das ist nichts weiter als der Rat einer erfahrenen Hausfrau“ , spottete er – ein Frontalangriff auf den Mann, der seit Jahrzehnten als oberster Lehrmeister des Schachs galt.

Die Rivalität zwischen Nimzowitsch und Tarrasch steht im Zentrum von The Philosopher and the Housewife, dem neuen Buch des niederländischen Internationalen Meisters und Schachhistorikers Willy Hendriks. In The Ink War (2022) untersuchte Hendriks die erbitterte Fehde zwischen Wilhelm Steinitz und Johannes Zukertort, die nicht nur auf dem Brett beim ersten WM-Kampf 1886, auch in Zeitungen und Magazinen ausgetragen wurde. Der Kampf zwischen dem „romantischen“ Angriffsspiel Zukertorts und Steinitz’ „wissenschaftlicher“ Herangehensweise begründete das moderne Positionsspiel.
Das Gedankengut von Steinitz und Zukertort wirkt ebenso bis in unsere Tage wie das von Nimzowitsch und Tarrasch, deren Fehde inhaltlich an die von Steinitz und Zukertort anknüpft. In The Philosopher and the Housewife verfolgt Hendriks die Rivalität dieser beiden. Tarrasch sah sich als Erbe von Steinitz, während Nimzowitsch eine ganz neue Richtung einschlagen wollte. „Von Anfang an versuchte Nimzowitsch, Tarrasch vom Thron zu stoßen“, erklärt Hendriks jetzt als Gast des Perpetual Chess Podcasts:
Klassik gegen Hypermoderne
Tarrasch war der führende Vertreter der klassischen Schachschule, die auf Steinitz’ Lehren aufbaute. Am Brett strebte Tarrasch nach Raum und freiem Figurenspiel, predigte schnelles Entwickeln und das Besetzen des Zentrums mit Bauern. Nachdem im 19. Jahrhundert François-André Danican Philidor gelehrt hatte, die Bauern seien die Seele des Spiels, sagte nun Tarrasch: “Das Tempo ist die Seele des Schachspiels.” Eine andere bekannte Maxime des großen Lehrmeisters: „Eine gedrückte Stellung trägt den Keim der Niederlage in sich.“
In seinen Büchern und Kommentaren präsentierte Tarrasch Schach als Wissenschaft, die auf universellen Prinzipien beruht. Nimzowitsch stellte diese Sichtweise infrage. Er argumentierte, dass das Zentrum nicht unbedingt mit Bauern besetzt werden müsse. Es lasse sich auch mit Figuren beherrschen. Statt frühzeitig Raum zu beanspruchen, bevorzugte Nimzowitsch flexible Strukturen, in denen eine Seite zunächst abwartetet, bevor sie aktiv wird. Seine Nimzo-Indische Verteidigung zeigt dieses Prinzip: Schwarz entwickelt erst seine Figuren und greift das Zentrum indirekt an.
Tarrasch hielt dagegen. Für ihn war Schach ein System fester Regeln. Hendriks beschreibt seine Haltung so: „Tarrasch wollte die seltsamen Ideen Steinitz’ vereinfachen, während Nimzowitsch spezifische Eigenheiten liebte.“

Meister der Selbstinszenierung
Nimzowitsch war ein begnadeter Selbstdarsteller. Hendriks bezeichnet ihn als „den vielleicht selbstverherrlichendsten Schachspieler jemals“. In The Philosopher and the Housewife kritisiert er, dass Nimzowitsch in seinem legendären Werk Mein System den Eindruck vermittelt, alle seine Ideen seien vollkommen neu und von ihm allein entwickelt worden. Hendriks stellt klar: „Wenn man Nimzowitsch liest, hat man den Eindruck, dass alles auf ihn zurückgeht.“ Tatsächlich war vieles, was Nimzowitsch als bahnbrechend darstellte, längst bekannt.
Ein Beispiel ist sein Kapitel über die siebte Reihe. Hendriks zitiert Bent Larsen, der darauf hinweist, dass die Bedeutung der siebten Reihe für Türme natürlich schon lange vor Nimzowitsch verstanden wurde: „Das ist doch eine völlig grundlegende Idee im Schach – das wusste man schon zu Zeiten von Greco!“ Auch Nimzowitschs Theorie der offenen Linie sei nichts Neues gewesen: „Die offene Linie ist ein grundlegendes strategisches Konzept, das sich durch die gesamte Schachgeschichte zieht.“

Ein Hauptproblem sieht Hendriks darin, dass Mein System kaum eine historische Einordnung bietet. Im Gegensatz zu Richard Réti, der in Die neuen Ideen im Schachspiel gezielt auf die Entwicklung der Schachtheorie einging, konzentrierte sich Nimzowitsch fast ausschließlich auf seine eigenen Partien. “Warum nicht?!”, habe Nimzowitsch dazu gesagt. Hendriks entgegnet: “Wenn man ein Handbuch über Positionsspiel schreibt, wäre es vielleicht eine Überlegung wert gewesen, sich auch die Partien des Weltmeisters Capablanca anzusehen.“
Nimzowitsch bleibt als skurriler Exzentriker in Erinnerung, jemand, der mit Kniebeugen im Turniersaal seinen “Geist am Laufen” hielt. Nimzowitsch glaubte laut Hendriks oft, dass Kellner ihm kleinere Portionen servierten als anderen und bestand darauf, das Essen zu tauschen – nur um sich dann erneut benachteiligt zu fühlen. Bekannt ist die Anekdote, wie er nach einer Niederlage auf einen Stuhl sprang und rief: „Warum muss ich gegen diesen Idioten verlieren?!“ Hendriks bestätigt, dass die Geschichte verbürgt ist – sie wurde von Hans Kmoch überliefert, der den Vorfall von eben jenem “Idioten” gehört hatte, von Friedrich Sämisch.
Tarrasch oder Nimzowitsch, wer hatte Recht?
Nimzowitschs Ideen haben überlebt. Die Nimzo-Indische Verteidigung ist nach wie vor eine der wichtigsten Eröffnungen, und Begriffe wie Prophylaxe und Überdeckung sind fester Bestandteil der Schachsprache, letzterer bis heute umstrittener Gegenstand der Debatte. Nimzowitschs Buch Mein System, obgleich verquast, gilt als Klassiker, doch Hendriks betont: „Es ist kein systematisches Lehrbuch, eher eine Sammlung einzelner Ideen.“
Tarrasch hat ebenso überlebt. Seine klassischen Prinzipien sind genauso gültig wie die hypermodernen, die in den 1920ern aufkamen. Ob die Tarrasch-Verteidigung im Damengambit oder der von Tarrasch propagierte offene Spanier, beides wird bis heute gespielt. Aber Tarraschs dogmatische Art, Schach zu lehren, wirkte zunehmend veraltet. Seine 300 Schachpartien bleiben ein lesenswertes Werk, in dem viel Wichtiges steht – aber, wie bei Nimzowitsch, nicht die ganze Geschichte. Als Anleitung für modernes Schach taugen Tarraschs Werke heute nur bedingt.
Die Rivalität hat sich zu Lebzeiten der beiden Kontrahenten nie aufgelöst: Tarrasch, der große Lehrer, der Schach in klare Regeln fasste, gegen Nimzowitsch, den exzentrischen Denker, der sich als Revolutionär inszenierte. Hendriks betont, in der Entwicklung des Schachs habe es nie eine plötzliche Revolution gegeben. Sie war ein schrittweiser, evolutionärer Prozess. Beide spielten darin ihre Rolle – die Hausfrau und der Philosoph.