Als Samuel Morse erfuhr, dass sein elektrischer Telegraf für die Übertragung von Schachzügen genutzt wurde, reagierte er empört. Seine revolutionäre Erfindung sah er als neues Kommunikationsmittel von weltweiter Bedeutung. Sie sollte nicht für ein Brettspiel verschwendet werden. „Frivol“ nannte es Morse, dass die neue, wichtige Technik für ein Freizeitvergnügen zweckentfremdet wurde.
Vor 180 Jahren, am 10. März 1845, kam es zur ersten ernsthaften Testpartie per Telegraf zwischen London und Portsmouth, initiiert vom englischen Schach-Vorkämpfer Howard Staunton. Samuel Morse konnte nicht ahnen, was sich in den 180 Jahren danach immer wieder offenbarte: Schach ist und bleibt ein exzellentes Testobjekt für Forschung und Entwicklung. Das hat sich nicht geändert, seitdem die Maschinen viel besser spielen als die Menschen. Zuletzt schrieb ein Experiment Schlagzeilen, in dem eine KI betrog, um beim Schach zu gewinnen:

Die ersten Schachpartien per Telegraf
Im 19. Jahrhundert diente Schach als Experimentierfeld für den aufkommenden elektrischen Telegrafen. Im Dezember 1844 fanden die ersten Testpartien statt, bei denen Züge über Telegrafenleitungen übermittelt wurden. Die Idee stammte von britischen Wissenschaftlern und Schachenthusiasten, die zeigen wollten, dass mit dieser neuen Technik komplexe, präzise Informationen über große Distanzen hinweg übertragen werden können. Die ersten Partien verliefen nicht reibungslos: Es kam zu Übertragungsfehlern, und Figuren landeten auf falschen Feldern.
Diese frühen Versuche führten am 10. März 1845 zur ersten ernsthaften Fernpartie zwischen London und Portsmouth. Der englische Meister Howard Staunton, der später mit der nach ihm benannten Figurennorm Schachgeschichte schrieb, war der Initiator. Er erkannte das Potenzial der neuen Technik und wollte sie für das Schachspiel nutzbar machen. Doch die Übertragung war langsam und fehleranfällig: Das Ausführen jedes Zugs dauerte etwa zehn Minuten. Die Züge mussten erst auf Tafeln notiert werden. Boten brachten die Tafeln zu den Telegrafenämtern.

Einen Monat später, am 11. April 1845, folgte eine weitere Partie von Staunton und Hugh Alexander Kennedy, die von Gosport (nahe Portsmouth) gegen eine Londoner Mannschaft spielten. Das Match fand vor Publikum im Londoner Vauxhall-Bahnhof statt, wo ein Telegraf installiert war. Doch trotz aller Ambitionen blieb die Partie unvollendet, weil technische Unzulänglichkeiten den Ablauf zu sehr störten. Staunton selbst bezeichnete das Match später als „reine Übung“, um die Technik zu verbessern.

Mit der Weiterentwicklung der Telegrafie wurden die Distanzen größer. 1880 fand eine Fernpartie zwischen Liverpool und Kalkutta statt – eine gewaltige Strecke für die damalige Zeit. Das Experiment zeigte, dass die Technik für eine solche Herausforderung noch nicht ausgereift war: Abermals dauerte die Übertragung der Züge zu lange.
Goldenes Zeitalter der Kabelschach-Matches (1896–1911)
1896 begannen regelmäßige Schachmatches zwischen England und den Vereinigten Staaten, die eine neue Ära des Fernschachs einleiteten. Unter anderem Emanuel Lasker, der damalige Weltmeister, spielte mit. Auch Harry Nelson Pillsbury, einer der besten Spieler der Jahrhundertwende, nahm an diesen Partien teil. Mittlerweile war die Technik den Anforderungen gewachsen. Verbesserte Telegrafenkabel verkürzten die Übertragungszeit, und die Matches gewannen an Popularität.
Zwischen 1896 und 1911 wurde Schach per Telegraf zu einem festen Bestandteil des internationalen Schachgeschehens. Jedes Jahr fanden Matches zwischen Großbritannien & Irland und den Vereinigten Staaten statt, für die sogar eine Silbertrophäe ausgelobt wurde.

Besondere Aufmerksamkeit erregte das Parlamentsmatch von 1897, in dem das britische House of Commons gegen das US-Repräsentantenhaus spielte. Laut einem Pressebericht vom 30. Mai 1897 hatten die Schachfreunde im Repräsentantenhaus “drei Demokraten, einen Republikaner und einen Populisten” ausgewählt, um “das amerikanische Schachprestige zu verteidigen”. Die Anglo American Telegraph Company und die Western Union Telegraph Company übermittelten die Züge. Das Match endete 2,5:2,5.

1898 maßen sich der British Chess Club und der Brooklyn Chess Club im Schach per Telegraf. Als Erinnerung an dieses Ereignis ließ Kabelhersteller “Siemens Brothers of London” eine spezielle Schachfigur in Form eines Ritters mit integriertem Kabelstück anfertigen. Werner Siemens hatte die sogenannte “Extrusionspresse” entwickelt, eine Maschine zur Ummantelung von Kabeln. Diese Erfindung führte 1847 zur Gründung der Telegrafenbauanstalt “Siemens & Halske”, die sich zu einem deutschen Industriegiganten entwickeln sollte. Die Technik von damals bildet bis heute die Grundlage für das Ummanteln von Kabeln. Aus “Siemens & Halske” entstand später die heutige Siemens AG.
Auch Universitäten nutzten den Telegrafen für Fernpartien. Zwischen 1899 und 1903 fanden regelmäßig Matches zwischen Oxford/Cambridge und Harvard/Yale/Princeton/Columbia statt. Diese Serie wurde durch den Russisch-Japanischen Krieg (Wikipedia) unterbrochen.
Als im Februar 1904 dieser Krieg ausbrach, wurden Telegrafenlinien zur strategischen Ressource – militärische Kommunikation hatte Vorrang. Ziviler Austausch wurde umgeleitet oder blockiert, und die Gebühren für Kabelübertragungen stiegen drastisch. Die britischen und amerikanischen Universitäten, die ihre Matches bislang verlässlich über die Telegrafenkabel ausgetragen hatten, standen damit vor einem Problem. Eine akademische Schachtradition fiel den Verwerfungen der Weltpolitik zum Opfer. Als sich 1906 die Lage stabilisierte, wurde die Schachserie fortgesetzt.
London gegen Chicago (1926)
Ein letzter Meilenstein in der Geschichte des Kabelschachs war das Match zwischen London und Chicago am 6. November 1926. Eine neue Kabelcode-Technik von Maurice S. Kuhns kam zum Einsatz. Schachgrößen wie José Raul Capablanca und Emanuel Lasker hatten die Technik geprüft und für gut befunden. Die Züge konnten nun in unter 55 Sekunden übertragen werden, für damalige Verhältnisse eine enorme Geschwindigkeit.
Ende des Kabelschachs
Nach und nach wurde Telegrafenschach vom Schach mit neuen Kommunikationsmitteln verdrängt.
- 1878 fand die erste Schachpartie über Telefon statt.
- 1920er Jahre: erste Experimente mit Schach über Radioübertragungen.
- 1960er Jahre: Nutzung des Faxgeräts für Fernpartien.
- 1980er Jahre: Die ersten E-Mail-Schachpartien wurden gespielt.
- 1990er Jahre: Einführung des Internets, Aufkommen von Schachplattformen wie dem ICC
Heute ist Telegrafenschach eine Fußnote in der Geschichte. Aber was Samuel Morse als „frivol“ abgetan hatte, erwies sich als eine der ersten erfolgreichen Anwendungen der Telegrafie für komplexe Informationsübermittlung. Schach half, die Grenzen dieser Technologie auszuloten, Fehlerquellen zu identifizieren und die Übertragungsgeschwindigkeit zu optimieren. Es wurde zum ersten Testfall für Fernkommunikation, lange bevor E-Mail- oder Onlineschach existierten.

Quellen (Auswahl):
https://atlantic-cable.com/Article/1926CableChess/index.htm
https://damasyreyes.es/ajedrez-por-telegrafo-frivolidad-180-anos/