„Schach erfordert viele zufällige Eigenschaften – und die richtige Mischung entscheidet über den Erfolg.“ So beschreibt Artur Jussupow die Essenz schachlicher Meisterschaft. Nicht Talent allein, sondern eine Kombination aus etwa 10 bis 15 Eigenschaften sei notwendig, um an die Spitze zu gelangen. Manche Spieler könnten Schwächen durch außergewöhnliche Begabung ausgleichen, aber nicht immer reiche das aus, erklärte Jussupow jetzt im Gespräch mit der südafrikanischen Nationalspielerin, Streamerin und Trainerin Jesse February.
Als Beispiel nennt Jussupow den ukrainischen Großmeister Wassyl Iwantschuk. Dessen schachliche Brillanz stehe außer Frage, doch fehle ihm eine wichtige Eigenschaft: Disziplin und Selbstorganisation. „Er hat eine Art Handicap, weil ihm bestimmte Elemente im Charakter fehlen“, erklärt Jussupow.
Obwohl Iwantschuk enorme spielerische Fähigkeiten besitze, fehle es ihm an der strukturierten Herangehensweise, die notwendig sei, um konstant auf höchstem Niveau zu performen. Schach sei eine Mischung aus Kunst, Wissenschaft und Sport – wer keinen Plan für Training, Vorbereitung und psychologische Stabilität habe, stoße irgendwann an Grenzen.
Tigersprung
Jussupows Buchreihe „Tigersprung“ ist heute eine der bekanntesten Schach-Trainingsserien für Amateure. Der Name geht auf seine Zusammenarbeit mit der Schach-Tiger-Akademie in Frankfurt zurück, wo er mit Hans-Walter Schmitt arbeitete. Dieser inspirierte ihn, Trainingsbücher für nicht-professionelle Spieler zu schreiben.
Die ursprüngliche Idee war eine persönliche: Jussupow wollte Schachmaterial für seine eigenen Kinder finden. Dabei stellte er fest, dass es im deutschen Sprachraum kaum geeignete Bücher für ambitionierte Amateure gab. Er begann mit einer systematischen Struktur und entwickelte eine Serie, die fundamentales Schachwissen systematisch vermittelt.

Zuvor hatte er bereits mit Mark Dworetzki Schachbücher geschrieben, doch nach seinem Umzug nach Deutschland konnte ihre gemeinsame Schachschule nicht weitergeführt werden. „Dworetzki musste fast alles alleine machen“, erinnert sich Jussupow. Also begann er, eigenständig Bücher zu veröffentlichen, die heute als anspruchsvolle, herausragende Lehrmittel für ambitionierte Amateure gelten.

Frauen im Schach: frühe Förderung und kritische Masse
Zur Entwicklung von Frauen im Schach äußert sich Jussupow pragmatisch. Er glaubt, dass Länder wie Indien oder die USA inzwischen eine kritische Masse erreicht haben – also genug starke Spielerinnen, um die Entwicklung fast von selbst voranzutreiben. „Wenn es genügend starke Spielerinnen gibt, dann passiert der Fortschritt automatisch.“
Deutschland hingegen hinke hinterher, weil es nicht genug Spielerinnen auf hohem Niveau gebe. Zwar seien Programme wie Online-Trainings mit den besten deutschen Spielerinnen, an denen zuletzt 60 Mädchen teilgenommen haben, ein guter Anfang – doch eigentlich bräuchte man viel größere Zahlen, um wirklich etwas zu bewegen.
Langfristig könne man nur durch frühe Förderung nachhaltige Veränderungen schaffen. Das sei jedoch ein Prozess, der Jahrzehnte dauere. „Es wurde in anderen Ländern schon vor 20 Jahren begonnen – heute sehen wir die Früchte dieser Arbeit.“ Deshalb sei es „fast hoffnungslos“, kurzfristige Veränderungen zu erwarten.
Hängepartien: ein vergessenes Konzept
Ein schon historisches Thema des Interviews ist Jussupows Blick auf Hängepartien – ein Konzept, das im modernen Schach verschwunden ist. Früher konnten Partien nicht in einer Sitzung zu Ende gespielt werden, sondern wurden nach einer bestimmten Anzahl von Zügen unterbrochen. Ein Spieler musste seinen nächsten Zug, den “Abgabezug”, in einem Umschlag versiegeln, und die Partie wurde am nächsten Tag fortgesetzt.
„In meiner Jugend war das ganz normal“, erinnert sich Jussupow. Spieler verbrachten die ganze Nacht mit der Analyse ihrer Stellung, um den besten Zug zu finden. Manchmal gab es sogar spezielle Ruhepausen, sodass eine Partie zwei Tage lang unterbrochen wurde – mit der Folge, dass die Spieler mehrere schlaflose Nächte hintereinander analysierten.
„Ich selbst habe nie die ganze Nacht durchgemacht, aber das war nicht ungewöhnlich“, sagt Jussupow. Er erinnert sich an ein Turnier in Holland, bei dem Hängepartien noch erlaubt waren – doch bereits wenige Jahre nach deren Abschaffung wusste kaum noch jemand, wie das Verfahren genau funktionierte. Heute kennen viele Schachspieler das Konzept nur noch aus Fotos oder Serien wie „The Queen’s Gambit“.