Nachdem er Keres (1965), Geller (1965) und Tal (1965) in Kandidatenmatches besiegt hatte, forderte Boris Spasski zum ersten Mal den Weltmeister heraus. Diesen ersten Titelkampf gegen Tigran Petrosjan in Moskau 1966 verlor er – und kam zurück. 1969 schaffte er es wieder bis ins WM-Match, das er diesmal gewann. Sein drittes WM-Match 1972 gegen Bobby Fischer war das vielleicht größte Schachereignis des 20. Jahrhunderts. Am Brett verlor Spasski. Abseits davon gewann er Anerkennung, Respekt und Sympathie, die ihn zu einer der meistgeachteten und -geschätzten Persönlichkeiten des Denksports machten. Jetzt ist der große Sportsmann Boris Spasski im Alter von 88 Jahren gestorben.
Geboren am 30. Januar 1937 in Leningrad (heute Sankt Petersburg), wuchs Boris Wassiljewitsch Spasski in schwierigen Zeiten auf: Während des Zweiten Weltkriegs wurde er als Kind mit seiner Familie aus dem belagerten Leningrad evakuiert. Die Kriegsjahre verbrachte er in einem Kinderheim.
Im Alter von neun Jahren erlernte Spasski das Schachspiel im Pionierpalast von Leningrad. Sein außergewöhnliches Talent offenbarte sich sehr bald. Seine Begabung wurde früh gefördert. Als Jugendlicher erhielt Spasski staatliche Unterstützung und durfte an internationalen Turnieren teilnehmen.
Nach damaligen Maßstäben war Spasski ein Wunderknabe des Schachs. Mit 16 Jahren erlangte er den Titel eines Internationalen Meisters. Zwei Jahre später wurde er 1955 zum damals jüngsten Schachgroßmeister der Welt ernannt. Im selben Jahr gewann er die Junioren-Weltmeisterschaft (U20) und festigte sogleich seinen Ruf als Ausnahmetalent, indem er sich zum ersten Mal die Teilnahme an einem Kandidatenturnier erkämpfte. 1956 in Amsterdam wurde er Vierter. Es gewann der spätere Weltmeister Wassily Smyslow.
Trotz dieses frühen Erfolgs setzte Spasski nicht ausschließlich auf Schach. Er studierte einige Zeit Journalistik an der Universität Leningrad, allerdings nicht mit letztem Ehrgeiz. Spasski wollte seinen Horizont erweitern, nicht im Schach versinken. Spasski pflegte vielfältige Interessen – er schätzte Literatur und Geschichte und sprach fließend Französisch, was ihm später half, sich in seiner Wahlheimat Frankreich zu integrieren. Gleichwohl ging die Karriere am Brett stets vor.
In den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren etablierte sich Spasski in der sowjetischen und der Weltelite. 1956 teilte er bereits den ersten Platz bei der UdSSR-Meisterschaft. 1961 gewann er diesen nationalen Titel zum ersten Mal allein. Der Durchbruch auf internationaler Bühne gelang ihm Mitte der 1960er: 1965 qualifizierte sich Spasski durch Siege über Paul Keres, Efim Geller und Exweltmeister Michail Tal für das WM-Match. Dem damaligen Weltmeister Tigran Petrosjan unterlag er in einem äußerst knappen Wettkampf mit 11½:12½.
Spasski ließ sich von dieser Niederlage nicht entmutigen. Drei Jahre später nutzte er seine zweite Chance: Im WM-Kampf 1969 besiegte er Petrosjan mit 12½:10½. Damit krönte sich Spasski zum Schachweltmeister – als fünfter Sowjetbürger in Folge nach Michail Botwinnik, Wassily Smyslow, Michail Tal und Tigran Petrosjan.

Spasskis Spielstil galt als äußerst vielseitig und anpassungsfähig. Seine Fähigkeit, sich auf unterschiedlichste Stellungsbilder und Eröffnungen einzustellen, war nahezu beispiellos in der Schachgeschichte. Der Universalist Spasski beherrschte komplexe strategische Manöver und scharfe taktische Gefechte gleichermaßen. Diese Flexibilität trug maßgeblich zu seinen Erfolgen bei.
Zwei Mal (1961 und 1973) gewann Spasski die Meisterschaft der Sowjetunion. Bemerkenswert war der Gewinn 1973, kurz nachdem Spassky den WM-Titel verloren hatte. Das Ende der 24-jährigen sowjetischen Schachherrschaft hatte für die besten Schachmeister im roten Riesenreich erhebliche, anhaltende Folgen. Mark Taimanov, Tigran Petrosjan (Bobby Fischers Gegner in den Kandidatenkämpfen) und Spasski galten als Versager, die es nicht geschafft hatten, den Ansturm des US-Phänomens auf den Thron zu stoppen.
Die 41. UdSSR-Meisterschaft vom 2. bis 26. Oktober 1973 in der sowjetischen Hauptstadt Moskau war die stärkste seit einem Jahrzehnt. Auf der Teilnehmerliste standen ehemalige Weltmeister, mehrfache sowjetische Titelträger und die stärksten Vertreter der sowjetischen Schule. Viktor Baturinsky, Vizepräsident des Schachverbands der UdSSR und Oberst der Justiz, erklärte allen Teilnehmern deutlich, dass ihre Teilnahme nicht nur obligatorisch war, sondern dass ihre Zukunft als sowjetische Schachspieler (und die damit verbundenen Vorteile) von ihrer Leistung bei der Meisterschaft abhing.

Das Turnier brachte nicht, wie erwünscht, einen neuen sowjetischen Anwärter auf den Titel hervor, zumindest nicht eindeutig. Der gerade als Weltmeister entthronte Boris Spasski gewann mit einem Punkt Vorsprung. Die künftigen WM-Finalisten Anatoli Karpow und Viktor Kortschnoi teilten sich dahinter den zweiten Rang mit drei anderen Spielern. Spasski hatte nachgewiesen, dass er weiterhin zur absoluten Weltspitze gehört. Er sollte im Lauf der 70er-Jahre noch zwei weitere Kandidatenrunden erreichen. 1974 scheiterte er an Karpow, 1977 im Kandidatenfinale an Kortschnoi.
Im Sommer 1972 traf Boris Spasski als amtierender Weltmeister in Reykjavík auf den exzentrischen amerikanischen Herausforderer Bobby Fischer. Dieser Zweikampf, oft als „Match des Jahrhunderts“ bezeichnet, fand auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges statt. Weltweit wurde es mit für das Schach bis dahin beispielloser Aufmerksamkeit verfolgt. Spasski und Fischer lieferten sich ein legendäres Duell, das auch politisch symbolträchtig war.
Nach 21 Partien musste Spasski seinen Weltmeistertitel an Fischer abtreten; der Endstand lautete 8½:12½ zugunsten des Amerikaners. Fischer wurde damit der erste – und bis heute einzige – US-Schachweltmeister.
Trotz der Spannungen und Dramen um diesen Wettkampf – Fischer sorgte durch ungewöhnliche Forderungen und Verzögerungen immer wieder für Eklats – verhielt Spasski sich äußerst fair und sportlich. Nur dank seiner Nachsicht und Kompromissbereitschaft konnte der Wettkampf trotz aller Zwischenfälle ordnungsgemäß zu Ende gespielt werden. In einer denkwürdigen Geste applaudierte Spasski sogar nach Fischers brillant gespielter sechster Partie gemeinsam mit dem Publikum seinem Gegner.
Fischer zeigte sich darüber erstaunt und nannte Spasski bewundernd „einen wahren Sportsmann“. Dieses Verhalten festigte Spasskis Ruf als Gentleman am Schachbrett. Der gegenseitige Respekt der Rivalen blieb auch nach dem Match bestehen – Spasski bezeichnete Fischer später als seinen Freund. Die Niederlage 1972 bedeutete zwar das Ende von Spasskis Regentschaft als Weltmeister, doch das Duell machte beide Kontrahenten zu Legenden. Dem Schachsport bescherte es weltweit eine bis dahin ungeahnte Popularität.

Nach dem Verlust des Weltmeistertitels blieb Spasski ein aktiver, ambitionierter Turnierspieler der Weltklasse, auch wenn er nie wieder um die Schachkrone kämpfen sollte. 1976 entschloss er sich zu einem Neubeginn außerhalb der Sowjetunion: Spasski verließ im Zuge einer politischen Tauwetterperiode seine Heimat. Mit seiner dritten Frau übersiedelte er nach Frankreich.
1978 erhielt er die französische Staatsbürgerschaft. Fortan spielte er unter der Flagge seines neuen Heimatlandes bei Schacholympiaden, unter anderem 1984, 1986 und 1988. Daneben ging Spasski in den 1980er-Jahren auch in der deutschen Schachbundesliga ans Brett (für die Solinger SG). Er gewann mit den Solingern mehrere deutsche Mannschaftsmeisterschaften.
Obwohl er in den 1980ern international nicht mehr ganz oben mitspielte, blieb Spasski dem professionellen Schach lange verbunden. 1992 kam es in Belgrad zu einem vielbeachteten inoffiziellen Rückkampf zwischen Spasski und dem mittlerweile seit 20 Jahren schachabstinenten Bobby Fischer. Dieser Privatwettkampf – ausgetragen trotz internationaler Sanktionen gegen Jugoslawien – endete mit einem Sieg Fischers; Spasski unterlag mit 12½:17½.

Danach trat Spasski nur noch sporadisch bei Turnieren und Schaukämpfen an. Ein bemerkenswertes spätes Aufeinandertreffen war 2009 ein Wettkampf in Elista gegen seinen alten Konkurrenten Viktor Kortschnoi, der 4:4 unentschieden endete.
Spasski spielte kaum noch, blieb aber präsenter Teil der internationalen Schachszene. Als sein Freund und Rivale Bobby Fischer 2004 in Japan verhaftet wurde, appellierte Spasski öffentlich an die Politik, Fischer freizulassen. Nachdem Fischer im Januar 2008 auf eigenen Wunsch in aller Stille in Island beigesetzt worden war, reiste Spasski im März nach Island. Auf dem kleinen Friedhof von Selfoss, einer Gemeinde im Süden des Inselstaats, erwies er seinem einstigen Gegner die letzte Ehre. An Fischers Ruhestätte zeigte sich Spasski tief bewegt. Journalisten fragte er scherzhaft und wehmütig zugleich, ob der Platz neben Fischer auf dem Friedhof noch frei ist.
Ab den 2000er-Jahren litt Spasski unter gesundheitlichen Problemen. 2006 erlitt er während eines Schachvortrags in San Francisco einen Schlaganfall; einen weiteren Schlaganfall hatte er wenige Jahre später in Moskau . Trotz dieser gesundheitlichen Rückschläge blieb sein Geist klar. Das Schachgeschehen verfolgte Spasski aufmerksam. In einem Interview 2016 äußerte er sich pessimistisch über die fortschreitende Technisierung des Schachs: „Aus meiner Sicht haben Computer das klassische Schach getötet“, klagte er.
Nach langen Jahren in Paris kehrte Spasski schließlich 2012 in seine russische Heimat zurück. Seinen Lebensabend verbrachte er in Moskau im Kreis von Freunden und Familie. Gelegentlich zeigte er sich bei Ehrungen oder Jubiläen öffentlich, lebte jedoch recht zurückgezogen. Mit seinem Tod verlor die Schachwelt jetzt den bis dahin ältesten noch lebenden Exweltmeister.

Boris Spasski war drei Mal verheiratet. Seine erste Ehe mit Nadeschda Latynzewa (1959–1961) brachte eine Tochter namens Tatiana hervor, aber zerbrach rasch. “Wir waren wie ungleichfarbige Läufer”, erklärte Spasski nach der Scheidung, eines seiner bekanntesten Zitate. In zweiter Ehe war er mit Larisa Solowjowa verheiratet, mit der er 1967 einen Sohn bekam, Wassili.
1975 heiratete Spasski in dritter Ehe Marina Schtscherbachowa, die Enkelin eines russischen Generals. Mit ihr verließ er 1976 die Sowjetunion Richtung Frankreich. Aus dieser Verbindung stammt ein weiterer Sohn, Boris Spasski jr., geboren 1980. Spasski lebte mit Marina über drei Jahrzehnte in Frankreich. Seine jüngere Schwester Iraida Spasskaja wurde vierfache sowjetische Meisterin im Damespiel (die russische Variante) und einmal Vizeweltmeisterin in dieser Disziplin.

Spasski galt als bescheiden, ausgeglichen und kontaktfreudig. Er knüpfte leicht Freundschaften und genoss es, sich mit verschiedensten Menschen auszutauschen. Exweltmeister Wladimir Kramnik, der Spasski oft privat traf, beschrieb ihn als äußerst geselligen Menschen, der gerne Geschichten erzählte und bis ins hohe Alter körperlich fit blieb. Noch mit Mitte 60 unternahm Spasski stundenlange Spaziergänge in den französischen Alpen.
Am Schachbrett war Spasski für seine Ruhe und sein Pokerface bekannt. Bobby Fischer bemerkte einmal anerkennend, Spasski sitze „mit dem gleichen ausdruckslosen Gesicht da, ob er mattsetzt oder mattgesetzt wird“ – ein Hinweis auf Spasskis Nervenstärke und Selbstbeherrschung. Spasski selbst betonte, dass für ihn ein gutes Verhältnis zum Gegner wichtig sei. Seine faire und respektvolle Haltung gegenüber Kontrahenten erklärte er in einem Interview so: „Mein Schach leidet, wenn ich gegen jemanden spielen muss, den ich als unfreundlich empfinde.“

Boris Spasski hinterlässt ein reiches Erbe in der Schachwelt. Als Weltmeister, der in kurzer Folge gegen drei der größten Spieler seiner Zeit antrat (Petrosian, Fischer und später noch Karpow in einem Kandidatenmatch), schrieb er sich in die Geschichtsbücher des Schachs ein. Seine besten Partien – geprägt von kreativen Ideen und kämpferischem Geist – gehören bis heute zum Schatz jeder Schachsammlung.
Zahlreiche Eröffnungsvarianten tragen seinen Namen oder wurden durch ihn populär gemacht, etwa sein erfolgreicher Einsatz des Königsgambits oder seine Beiträge zur Theorie der Spanischen Partie (Marshall-Angriff). Spasski wird von Fachleuten als Spieler gewürdigt, der in allen Partiestadien – Eröffnung, Mittelspiel und Endspiel – Herausragendes leistete.
Darüber hinaus war Spasski eine Symbolfigur, die weit über das Schachbrett hinaus Bekanntheit erlangte. Sein Match gegen Fischer 1972 machte ihn zu einem Botschafter des Schachs in der Öffentlichkeit. Jahrzehnte später wird dieser Zweikampf noch immer in Büchern, Dokumentationen und Filmen aufgearbeitet. In Pawn Sacrifice (2014) wurde Spasski von Liev Schreiber verkörpert. Der Film, gedreht mehr als 40 Jahre nach dem Match des Jahrhunderts, veranschaulicht die Bedeutung dieses Duells. Spasskis Persönlichkeit – der Sportsmann und Brückenbauer zwischen Ost und West – trug zur Anerkennung des Schachsports in der Welt bei.

Garry Kasparov, der 13. Schachweltmeister, nannte Boris Spasski rückblickend „mein erstes Schachidol“. Diese Aussage unterstreicht Spasskis Einfluss auf nachfolgende Generationen von Spitzenspielern. Viele heutige Großmeister haben aus Spasskis Partien gelernt und schätzen sein Vermächtnis als leuchtendes Beispiel für Sportsgeist und schachliche Kreativität. Mit Boris Spasski verliert die Schachwelt einen ihrer letzten Vertreter einer längst vergangenen Ära, doch sein Name und sein Wirken werden in der Geschichte des Spiels fortleben – Champion, Gentleman und Legende des Schachs.
Quellen (Auswahl):
Zum 85sten Geburtstag von Boris Spassky | ChessBase
Boris Spassky | Biography & Facts | Britannica
Boris Spassky – Wikipedia
Chess legend Boris Spassky visits rival Bobby Fischer’s grave | Reuters
World Chess Championship 1972: Game 6 (Fischer vs. Spassky) – Chess.com
Boris Spassky 2016 interview – Chess.com
Karpov, Kramnik and Kasparov on Spassky
In einer ersten Version dieses Beitrags stand, Boris Spasski habe 2008 an Bobby Fischers Beerdigung teilgenommen. Tatsächlich ist Spasski kurz nach der Beerdigung nach Island gereist, um Fischers Grab zu besuchen. Der Fehler ist korrigiert.

RIP Borris Spassky! Ich werde nie vergessen, wie ich ihn Anfang der 80er Jahre zum ersten Mal in der Schachbundesliga erleben durfte.
Ausgeglichen, Ruhe ausstrahlend, kurz: Spassky war auch äußerlich eine Ausnahmeerscheinung.
Vielen Dank für diesen Artikel, der ihm eine letzte Ehre erweist!
Super schöner Artikel! Vielen Dank dafür. Ein kleiner Hinweis, an einer Stelle haben Sie versehentlich “scherzhaft” statt “schmerzhaft” geschrieben.