“Zu Beginn des Jahres sind die Schachnachrichten voll mit neuen Entwicklungen. Ein neuer und junger Weltmeister, neue Spielformate, eine unbestreitbare Anziehungskraft; Schach scheint in eine neue Ära eingetreten zu sein und eine Umgestaltung erfahren zu haben. Ist dies wirklich der Fall? Was sind die wirklichen Stärken dieses uralten Spiels und was sind die möglichen Hindernisse?” Das steht aktuell auf der Website von Maxime Vachier-Lagrave, auf der der französische Großmeister alle paar Wochen aus seinem Schachleben berichtet und über die Szene reflektiert. Diesmal in Form eines Videos:
Maxime Vachier-Lagrave ordnet die aktuellen Entwicklungen im Schach mit Blick auf die Zukunft ein: „Die Zeit ist günstig, was Sponsoren, den Markt und das Geld angeht, das in das Spiel gesteckt wird. Aber wir können uns nicht darauf ausruhen und denken, dass das immer so sein wird.“ Schach müsse weiterentwickelt werden, um nachhaltig attraktiv für Zuschauer und Sponsoren zu bleiben. Mehr Offenheit für neue Formate, schnellere Entscheidungsprozesse und eine moderne Event- und Medienstrategie, speziell bei der FIDE, sind aus Sicht der französischen Nummer zwei der Schlüssel zur nachhaltigen Entwicklung.
Ein zentrales Thema seiner Analyse ist die Evolution des Spiels – durch neue Formate und den Einfluss der jungen Generation von Schachstars aus Indien, Usbekistan, die den Generationswechsel an der Spitze längst eingeleitet haben. Die derzeitige Weltelite um Magnus Carlsen und, mit Abstrichen, ihn selbst werde von Spielern wie Gukesh Dommaraju oder Nodirbek Abdusattorov ernsthaft herausgefordert, was sich in der Weltrangliste widerspiegele.
Spannend findet Vachier-Lagrave das Konzept von Freestyle Chess, das klassische Bedenkzeiten mit zufällig aufgestellten Figuren (Chess 960) kombiniert. Er sieht darin einen möglichen Weg, die Eröffnungstheorie zu umgehen und die Kreativität im Schach wieder stärker zu betonen. Allerdings sei noch unklar, ob Zuschauer bereit seien, sechs Stunden lange Partien in diesem Format zu verfolgen. Die Tragfähigkeit des Konzepts müsse sich noch erweisen.
Ein weiteres großes Thema ist der Einfluss von Esports auf Schach. MVL sieht Potenzial in der wachsenden Integration von Schach in große E-Sport-Events wie den Esports World Cup 2025 in Riad und betont, dass der Sport lernen müsse, sich für ein größeres Publikum zu öffnen. Er verweist auf E-Sport-Events mit großen Live-Zuschauermengen und hofft, dass Schach hier von anderen Disziplinen lernen kann.

In der stärkeren Verzahnung mit der E-Sport-Industrie, die in Sachen Zuschauerbindung und Eventgestaltung deutlich weiter sei als Schach, sieht Vachier-Lagrave Potenzial. Er schlägt vor, dass Schach Live-Events mit großen Zuschauerzahlen in Arenen testen sollte, ein Plan, den auch Jan Henric Buettner hegt. Gerade bei Turnieren, die online gespielt werden, könnten Spieler an einem zentralen Veranstaltungsort antreten – mit Publikum und Showcharakter, ähnlich wie es in E-Sports der Fall ist und wie es chess.com beim Finale der Speed-Chess-Championship 2024 versucht hat.
Ein weiteres Problem sieht er in der geschlossenen Struktur vieler großer Turniere. Am Beispiel von Schach960 macht MVL deutlich, dass es schwer sei, die besten Spieler zu ermitteln, wenn es keine klaren und offenen Qualifikationsstrukturen gebe. Turniere sollten mehr Teilnehmer über transparente Qualifikationssysteme zulassen, anstatt sich nur auf eine kleine Auswahl etablierter Großmeister zu konzentrieren.
Vachier-Lagrave sieht dringenden Handlungsbedarf bei der FIDE, wenn das Spiel langfristig erfolgreich bleiben soll. Die FIDE brauche oft zu lange, um Entscheidungen zu treffen, was gerade in einer sich schnell verändernden Welt problematisch sei. Während andere Sportarten und Esports flexibel auf Entwicklungen reagieren, erwecke Schach oft den Eindruck, in endlosen Abstimmungsprozessen gefangen zu sein.
Besonders die Attraktivität für Zuschauende müsse steigen. MVL sieht die steigende Beliebtheit von Blitz- und Schnellschachformaten – und fragt sich, ob klassische Partien in ihrer jetzigen Form langfristig überleben. Die FIDE müsse sich überlegen, wie sie Schach für ein breites Publikum spannender machen kann, ohne das Stammpublikum zu verlieren. Formate wie Freestyle Chess seien ein möglicher Weg.
Auch im Bereich der Medienpräsenz müsse sich FIDE weiterentwickeln. Der momentane Schachboom sei kein Selbstläufer, und es sei essenziell, verstärkt auf professionelle Medienarbeit zu setzen, um das Spiel über die bestehende Schach-Community hinaus bekannt zu machen. Schach müsse sich überlegen, wie es verstärkt in TV-Formate integriert werden könne, um neue Zuschauergruppen zu erreichen.