„Fischer, Kasparov, Carlsen – für manche ist es ihr Schicksal, Weltmeister zu werden. Für mich war es anders. Es war eher eine Cinderella-Geschichte – ich habe gegen alle Erwartungen gesiegt“, sagt Rustam Kasimdzhanov rückblickend auf seinen Weltmeistertitel 2004. In einem offenen und ausführlichen Gespräch mit Millennium-CEO Max Hegener gibt der usbekische Großmeister Einblicke in seinen ungewöhnlichen Karriereweg. Im ersten Teil des Interviews berichtet Kasimdzhanov vom herausfordernden Leben in der Sowjetunion, seinem Umzug nach Deutschland als junger Familienvater und dem überraschenden Triumph in Tripolis.
Kasimdzhanov sah sich nie als zukünftigen Champion. „Ich glaube nicht, dass ich jemals den Ehrgeiz hatte, Weltmeister zu werden“, gibt er zu. Während Bobby Fischer oder Garry Kasparov mit eiserner Entschlossenheit ihren Traum verfolgten, hatte Kasimdzhanov nie das Gefühl, dass dies sein vorherbestimmtes Ziel war. Sein Triumph 2004 in Tripolis sei eher das Ergebnis eines perfekten Moments gewesen. „Ich habe gewonnen, weil ich irgendwann spürte, dass ich eine Chance hatte. Und dann habe ich all meine Energie und meine Kraft dafür eingesetzt.“

Sein Sieg war auch durch äußere Umstände begünstigt. Einige der stärksten Spieler, darunter Viswanathan Anand und Boris Gelfand, nahmen nicht teil. „Warum hätte ich mich in einem K.-o.-Turnier mit Vishy anlegen wollen?“ scherzt er. Gelfand, der nicht in Tripolis spielen wollte, habe sich in den Jahren danach als extrem schwieriger, vielleicht sogar Angstgegner entpuppt. Insofern sei es günstig gewesen, dass er nicht mit von der Partie war.
Vor seinem Weltmeistertitel erlebte Kasimdzhanov eine große private Veränderung. 2003 zog er mit seiner Familie nach Deutschland – eine Entscheidung, die mit vielen Schwierigkeiten verbunden war. „Ich war frisch verheiratet, wir hatten ein Baby, und dann entschieden wir uns umzuziehen. Es war nicht einfach – Bürokratie, Visa, es war ein Kampf.“ Kasimdzhanov zählt eine Reihe von Herausforderungen auf: eine Wohnung finden, die nötigsten Haushaltsgegenstände besorgen, einen gültigen Führerschein bekommen. Zwischenzeitlich mussten seine Frau und sein Kind zurück nach Usbekistan reisen, weil ihre Visa nicht den Anforderungen entsprachen.
Sobald sich die Situation stabilisierte, ging es auch am Schachbrett aufwärts. „Plötzlich fühlte ich mich besser, spielte besser.“ Im Frühjahr 2004 gewann er ein großes Open in Dubai und teilte sich den ersten Platz bei einem Schnellschachturnier in Luxemburg – Anzeichen für eine starke Form.

Als Titelkandidat galt er als Nummer 54 der Welt mit einer Elo von 2640 gleichwohl nicht. Aber mit jeder Runde wuchs sein Selbstvertrauen. Ein Schlüsselmoment ereignete sich bei der Eröffnungsfeier in Libyen. Neben Großmeister Peter Heine Nielsen sitzend, sagte Kasimdzhanov beiläufig: „Das ist wahrscheinlich meine beste Chance, Weltmeister zu werden. Noch immer keine große Chance, aber meine beste.“ Später sollten Nielsen und Kasimdzhanov als Sekundanten Anands zusammenarbeiten.
Auf die Frage, welche Eigenschaften ein Weltmeister haben muss, gibt Kasimdzhanov eine einfache Antwort: „Man muss gut werden. Aber gut zu sein, reicht nicht. Man muss auch Glück haben.“ Die Rolle, die Glück beim Schach spielt, hält Kasimdzhanov für unterwertet. Er ist überzeugt, dass Erfolg – ob im Schach, in der Wirtschaft oder in anderen Bereichen – eine Mischung aus Können und Zufall ist. Ein Freund habe seinen ersten Job an der Wall Street nur bekommen, weil er nach einem abgelehnten Bewerbungsgespräch zufällig im richtigen Moment der richtigen Person auf der Toilette begegnete.
Genauso hätten sich auch Schachkarrieren ganz anders entwickeln können. „Kasparov hätte sein erstes WM-Match gegen Karpov verlieren können. Fischer hätte nie Weltmeister werden müssen. Es geht immer auch um den richtigen Zeitpunkt.“ Sogar Magnus Carlsens Aufstieg hing von Schlüsselmomenten ab – etwa von seinem knappen, glücklichen Sieg beim Kandidatenturnier 2013. „Wenn er dieses Turnier nicht gewonnen hätte, wer weiß, was passiert wäre?“
Mit dem Spiel, das sein Leben bestimmen sollte, kam Kasimdzhanov durch Zufall mit dem Spiel in Berührung. „Ich war vielleicht sechs oder sieben, als ein Mann in unser Klassenzimmer kam und fragte, ob jemand Schach spielen wolle. Alle Kinder gingen mit, aber nach einer Woche waren nur noch zwei übrig. Bald war ich der Einzige.“ Der Mann, der ihn damals ins Schach einführte, stellte sich als einer der besten usbekischen Schachspieler der Geschichte heraus, der über Jahre Anteil an Kasimdzhanovs Entwicklung nehmen sollte – ein Glücksfall.
Schach faszinierte Kasimdzhanov von Anfang. „Ich habe nachts unter der Decke Schachbücher gelesen, mit einer Taschenlampe.“ Seine Familie war besorgt, aber er konnte nicht aufhören. Allerdings war sein Fortschritt nicht so schnell wie der heutiger Wunderkinder. „Heutige Elfjährige spielten auf meinem Niveau mit 17 oder 18.“ Kasimdzhanovs Entwicklung war unregelmäßig, mit langen Phasen, in denen er sich kaum mit Schach beschäftigte. Er ergleicht seine Erfahrung mit der heutigen Generation usbekischer Schachstars wie Nodirbek Abdusattorov, die unter völlig anderen Bedingungen aufwachsen. „In dem Alter, in dem Abdusattorov schon mit Kramnik und Gelfand trainierte, hatte ich noch nie einen Großmeister gesehen.“
Kasimdzhanovs Jugend fiel mit dem Zerfall der Sowjetunion zusammen – eine turbulente Zeit, die ihm sowohl Herausforderungen als auch Chancen brachte. „Ich bin kein Fan dessen, was die Sowjetunion war. Sie war schreckliches Experiment an der Menschheit“, sagt er heute. Durch den Zusammenbruch des Riesenreichs eröffneten sich ihm neue Möglichkeiten. Plötzlich war er Landesmeister von Usbekistan – ein Titel, den es in der UdSSR so nicht gab. Kasimdzhanov bekam Einladungen zu internationalen Turnieren und konnte sich auf der großen Bühne beweisen. Trotzdem sei das Leben in den 1990ern hart gewesen. „Wir danken Gott, dass wir diese Zeit überlebt haben.“ Die Instabilität habe viele Ungewissheiten mit sich gebracht. Schach war der Ausweg.
Wird fortgesetzt.
Toller Artikel! Gutes Engagement von Millenium, solch einen Beitrag zu sponsern!