“Die Lücke zwischen mir und der Gesellschaft…” – Robert Hübner (1948-2025)

“Vor 16 Jahren kehrte ein gekränkter und enttäuschter Robert Hübner der Presse den Rücken. Ihre Welt war nicht seine Welt. Es folgte eine längere Zeit des Schweigens in der Öffentlichkeit. Bis der größte deutsche Schachspieler der Nachkriegszeit, sehr zu unserer Freude und unserem großen Stolz, unsere Einladung zu einem Interview annahm. In zwei langen Sitzungen sprach der Kölner Großmeister und Papyrologe offen und engagiert über seine Ansichten und Leidenschaften. In makellosem Niederländisch berührte er die wundersamen Möglichkeiten der Sprache, die Schwierigkeiten des Schachspiels, die Schüchternheit von Bobby Fischer gegenüber der Presse im Vergleich zu seiner eigenen und die verzerrte demokratische Vorstellung, dass Quantität gleich Qualität sei. All dies und mehr, mit häufigen Verweisen auf seine legendäre Dummheit. Oder: ein kurzer Kurs darüber, wie ein Sieg der Vernunft über die Emotionen den Fortschritt der Menschheit fördern könnte.”

Robert Hübner schaut in die Kamera, ein seltenes Motiv, eingefangen von Fotograf Gerard de Graaf anlässlich des New-in-Chess-Interviews 1997.

Mit diesem Vorspann begann in der zweiten Ausgabe von New in Chess 1997 das Interview mit Robert Hübner, das erste Hübner-Interview nach 16 Jahren. Zuletzt im Januar 1981 anlässlich des verlorenen, von ihm vorzeitig abgebrochenen Kandidatenfinales gegen Viktor Kortschnoi hatte Hübner dem Spiegel ein Interview gewährt. Das Gespräch mit Redakteur Werner Harenberg geriet in weiten Teilen zu einer Journalismuskritik:

Nach dem verlorenen Kandidatenfinale gegen Viktor Kortschnoi.

Hübner offenbarte trotz allen Nachhakens keinen konkreten Grund für den Matchabbruch, sehr wohl aber den für sein öffentliches Abtauchen in den Jahren danach. Er wolle sich nicht wie “ein Affe im Zoo” betrachten lassen. 16 Jahre später gegenüber New in Chess nahm er diesen Faden auf: „Die Lücke zwischen mir und der Gesellschaft sollte nicht geschlossen werden, indem ich mich anpasse, sondern indem die Gesellschaft besser nutzt, was ich zu bieten habe.“

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Ende 1996 hatte ihm Dirk Jan ten Geuzendam, Chefredakteur der New in Chess, ein Angebot gemacht, das abzulehnen Hübner nicht gelang. “Ich hatte ihn eingeladen, für drei Tage nach Den Haag zu kommen, und schlug folgendes Programm vor: Jeden Tag würde ich ihn eine Stunde lang interviewen, dann würden wir ein Museum besuchen, und am Abend würden wir zu Abend essen und weiter reden.” So berichtet es ten Geuzendam am heutigen Montag im New-in-Chess-Blog. Sein Fazit: “Es waren drei wunderbare Tage, und meine damalige Frau fasste sie perfekt zusammen, nachdem Robert abgereist war: ‘Er kann jederzeit wiederkommen.'”

Zum 72. Geburtstag von Robert Hübner.

Am Sonntag, 5. Januar 2025, ist Robert Hübner im Alter von 76 Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben. New in Chess hat den Tod des besten deutschen Spielers in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Anlass genommen, das Interview aus dem Frühjahr 1997 der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.

Eine Zusammenfassung:

„Ich verstehe nicht viel vom Schach“

Hübner beschreibt Schach als eine Welt für sich, die jedoch begrenzt und kontrollierbar ist. „Im Schach ist es theoretisch möglich, alle Kräfte auf dem Brett zu verstehen. Man kann denken, dass man durch Fleiß zu einer überzeugenden Lösung einer Frage kommen kann.“ Doch er betont die Schwierigkeit, Schachpositionen zu verstehen, und stellt klar: „Das Verständnis von Schachpositionen ist harte Arbeit.“

Er kritisiert die Oberflächlichkeit vieler Schachkommentare: „In der Schachjournalistik gibt es zu viele Leute, die Dinge schreiben wie ‚Der Läufer hat jetzt einen schönen Blick über die lange Diagonale‘. Sie schaffen den Eindruck, dass Schach leicht zu beherrschen sei.“ Dem setzt er seine detaillierten Analysen entgegen, wie sie in seinem Buch 25 Annotated Games zu finden sind. Für ihn sind diese Kommentare der Versuch, „ein unvollkommenes Werk ein bisschen näher an die Perfektion zu bringen.“

“Ein unvollkommenes Werk näher an die Perfektion bringen”: 25 Annotated Games.

Selbstkritik und Zweifel

Hübners Selbstkritik zieht sich durch das gesamte Interview. „Wenn ich schlecht spiele, habe ich das Gefühl, kein Existenzrecht zu haben. Jeder sollte mich verachten, weil ich so ein Stümper bin.“ Er beschreibt, wie eine verlorene Partie bei ihm oft Selbsthass auslöst: „Das hat wenig mit meinem Gegner oder dem Ergebnis zu tun. Es zeigt nur meine eigene Dummheit.“

Trotz seiner Erfolge, etwa dem zweiten Platz beim Interzonenturnier in Palma de Mallorca 1970 hinter Bobby Fischer, sieht er sich nicht als außergewöhnlichen Spieler. „Ich hatte nie das Gefühl, ein so guter Spieler zu sein“, sagt er. Auch das Lob von Fischer lässt ihn kalt: „Ich weiß nichts darüber und es ist mir völlig egal, ob Fischer etwas über mich gesagt hat oder jemand anderes.“


Philologie und die Liebe zur Sprache

Neben Schach ist Hübners zweite große Leidenschaft die Philologie. Er betont die Bedeutung der Sprache als Werkzeug, um Realität zu verstehen. „Sprache ist ein altes, beeindruckendes Werkzeug und ein wunderbares Spielzeug.“

Hübner kritisiert jedoch die Nachlässigkeit im Umgang mit Sprache: „Wenn jemand sagt: ‚Du weißt doch, was ich meine‘, dann beunruhigt mich das. Es zeigt, dass man die Grundlage der Kommunikation verliert.“ Hübner verteidigt die Präzision der Sprache und widerspricht der oft gehörten Behauptung, Gefühle könnten nicht in Worte gefasst werden: „Es gibt nichts Falsches an der Sprache, aber die Leute leisten schlechte Arbeit. Zu sagen, ‚Ich habe dieses Gefühl, kann es aber nicht ausdrücken‘, ist ein Zeichen von Faulheit.“


Rückzug aus der Öffentlichkeit

Hübners Verhältnis zur Presse ist problematisch. Nachdem er schlechte Erfahrungen gemacht hatte, zog er sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. „Die Presse zielt darauf ab, Emotionen zu wecken, und das lehne ich ab“, erklärt er. Für ihn ist die Verbreitung von Wissen das Ziel: „Meine Gefühle sind unwichtig, nur meine Gedanken zählen.“

Ein Beispiel für seinen Konflikt mit der Presse ist sein Kandidatenmatch gegen Tigran Petrosian 1971 in Sevilla. Hübner brach das Match wegen der Lärmbelästigung im Spielsaal ab. Dieses Erlebnis bezeichnet er als „eine Lektion“. „Ich dachte, wir wären alle dort, um Schach zu spielen, und dass man Störungen beseitigen würde. Aber das war offensichtlich nicht der Fall.“

Robert Hübner 1971 beim Hoogoven-Turnier gegen Tigran Petrosian, Weltmeister 1963-69. | Foto: B. Verhoeff/ANEFO

Die Suche nach Klarheit

Hübners philosophische Überzeugungen durchziehen das Gespräch. Er beruft sich auf Kant und betont die Subjektivität der menschlichen Wahrnehmung: „Die Realität existiert, aber wir können nie sicher sein, dass wir sie wirklich erfassen.“ Für ihn bleibt vieles unsicher: „Mein Stand in dieser Welt ist nicht sehr fest.“ Dennoch sieht Hübner in der Vernunft den Schlüssel: „Fortschritt könnte erzielt werden, wenn die Vernunft die Oberhand über die Emotionen gewinnen würde.“

Seine Beschäftigung mit klaren, begrenzten Systemen wie Schach und Philologie beschreibt er als eine Art Flucht: „Ich sehe keine Möglichkeit, ein nützlicher Teil dieser Gesellschaft zu sein. Das, was ich tue, ist vielleicht eine Art Rückzug, oder ich tue es, weil es mir Freude macht.“


Akribie und Perfektionismus

Hübner ist bekannt für seinen Perfektionismus, der sich in seinen Schachanalysen und seinen schriftlichen Arbeiten zeigt. Seine Bücher, wie 55 Feiste Fehler und 25 Annotated Games, sind Beispiele für seinen akribischen Stil. „Man kann dieses Buch, an dem ich 4000 Stunden gearbeitet habe, nicht in fünf Minuten lesen“, sagt er. Für ihn liegt der Wert seiner Arbeit darin, dass sie nicht massentauglich ist: „Es gibt genug Bücher, die leicht konsumiert werden können. Dafür braucht es mich nicht.“

“Nicht massentauglich”: 55 Feiste Fehler, begangen und besprochen von Robert Hübner.

Der Wert von Individualität

Hübners Interesse an der finnischen Sprache und Kultur spiegelt seine Wertschätzung für Individualität wider. „Finnland ist ein kleines, individuelles Land. Die Leute sind ehrlich und direkt, und ich komme gut mit ihnen aus“, erklärt er. Die Beschäftigung mit Finnisch sieht er als Teil seiner Suche nach Struktur und Klarheit: „Ich mag kein Chaos in meinem Denken. Wenn ich es vermeiden kann, tue ich das gern.“


Ein ambivalentes Verhältnis zum Schach

Obwohl Hübner einen Großteil seines Lebens dem Schach gewidmet hat, betont er, dass es für ihn nie die wichtigste Aktivität war. „Schach ist für mich nicht so wichtig. Ich genieße es und es hat mein Leben ausgefüllt, aber ich glaube, ich könnte es leicht aufgeben.“ Seine Motivation, Schach zu spielen, beschreibt er als den Wunsch, ein gutes Stück Arbeit abzuliefern: „Eine Partie, nachdem sie beendet ist, ist für mich ein Stück Arbeit. Das Wichtigste ist, dass es ein gutes Stück Arbeit ist.“


Nachrufe:

Peter Doggers über Robert Hübner.
Florian Pütz über Robert Hübner (für Abonnenten).
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