Kasparow, der Meister der Königsindischen Verteidigung, wurde für mich eher zufällig zum Vorbild, als ich mich nach längerer Abstinenz wieder in einem Mannschaftswettkampf sonntagmorgens am Schachbrett fand. Wir spielten in einem atmosphärischen Schlosscafé, dessen Raum mit alten Requisiten und antiquarischen Büchern geschmückt war. Eine glänzende Ritterrüstung an der Wand schien wie ein stummer, kritischer Beobachter direkt auf mein Brett zu blicken.
Leider gab mir der metallene Krieger keine sachdienlichen Hinweise, als ich im 20. Zug grübelte, wie der gegnerische Springerangriff auf meinen Turm am besten zu beantworten sei. Stattdessen stellte ich mir vor, was wohl Garri Kasparow in dieser Situation spielen würde.
Königsindische Stellungsbilder waren mir bis dato eher selten begegnet – auch in dieser Partie war es mehr Zufall, dass ich in ein solches geriet. Dennoch wollte ich, passend zum historischen Ambiente, die ruhmreiche Ahnenreihe der (Königsindisch-)Ritter ehren und ihr Erbe in diesem Duell nicht beschämen. Mehr noch – ich wollte versuchen, Garris Brillanz nachzuahmen!
Der Partieeinstieg war vielversprechend verlaufen. Nach (m)einem vorübergehenden Bauernopfer im 17. Zug traten wir ins Mittelspiel ein, in dem mein Gegner mit einer demolierten Bauernstruktur vor seinem kurz rochierten König konfrontiert war. Der Grund dafür war, dass sein g-Bauer nun gemeinsam mit dem glänzenden Ritter als Zuschauer vom Rand des Bretts aus die Partie überwachte.
Ich sondierte die Stellung: Aufgrund des blockierten Zentrums könnte ich in aller Seelenruhe versuchen, am Königsflügel Druck aufbauen, während mein dadurch beschäftigter Gegner am Damenflügel keine Zeit für eine Gegenoffensive hätte.
Mit andern Worten: das Sicherheitskonzept des gegnerischen Königs war ernsthaft in Frage gestellt. MEINE Stellung schien mir hingegen unverlierbar. Dass ich nur konsequent und konzentriert weiterspielen musste, um vielleicht als Sieger aus dem Schloss(-Café) hervorzugehen, brauchte mir da auch gar nicht erst der weiterhin sehr interessiert wirkende Ritter verraten, das kapierte ich ganz von selber.
Beim weiter vor mich Hinträumen, was Garri jetzt wohl zöge, traf mich eine Eingebung.
Ich erinnerte mich an seine berühmt gewordene Königsindischpartie gegen Gata Kamsky beim Turnier in Dortmund 1992, als Garri hochriskant seinen Läufer auf f4 platzierte (übrigens ebenfalls im 20. Zug!), um Linien zu öffnen somit direkt in die Schusslinie des auf g3 stehenden Bauern von Kamsky hinein. Ein mutiger Zug, der damals wie Magie auf mich wirkte! Zwar verlor Kasparow später, doch das war in meiner Überlegung nebensächlich.
In zahlreichen anderen Königsindisch-Schlachten, wie seinem brillanten Sieg gegen Jeroen Piket in Tilburg 1989 (mit vorübergehendem Turmopfer und dem spektakulären Schlusszug 28… Sh1!) bewies er schließlich zur Genüge seine Meisterschaft in solchen Stellungsbildern.
Auch sein königsindisches Damenopfer 12…Sfxe4! aus einer Blitzpartie gegen Vladimir Kramnik, gespielt 1994 in München, dass sich seither in meinem Kopf eingebrannt hat, flackerte auf einmal wieder auf. Ist es nicht erstaunlich, dass man in einer Turnierarena sitzend vieles, was man längst vergessen glaubte, plötzlich wieder im Hinterkopf hat, wenn man nur passend stimuliert wird?
Einige weitere königsindische Kasparow-Spektakel mit Bildern von wehrlosen Karpows (Linares 1993!) und Schirows (auch Dortmund 1992!) spukten mir durch den Kopf, während ich weiter mit dem Springerangriff auf meinen Turm beschäftigt war.
Statt meine wertvolle Schwerfigur einfach auf ein beliebiges Feld in Sicherheit zu bringen und damit meinen Vorteil zu stabilisieren, verführte mich ein fataler Plan.
„STÜRMT DAS SCHLOSS, STÜRMT DAS SCHLOSS, jagt der Narrheit hinterher…“ punkrockte die Band Tocotronic (in ihrem gleichnamigen Lied vom Nr. 1-Album „Schall und Wahn“ aus dem Jahr 2010) in meiner gedächtnisgespeicherten Musikdatenbank. Auch der Ritter an der Wand schien mir zuzunicken und mein innerer Kasparow ermutigte mich, den angegriffenen Turm NICHT wegzuziehen.
Wie ein Mantra hallten die Lehren Kasparows in mir wider und hatten bald vollständig das Kommando übernommen:
„Wenn man mehr Figuren im Angriff hat als der Gegner in der Verteidigung, schlägt der Angriff durch, selbst wenn man Material opfert!“
Na gut, ich entschied mich also, keine Zeit mit schnöden Turm-„Fluchtzügen“ zu verlieren (wie lächerlich im Nachhinein) und stattdessen meinen g-Bauern nach vorn zu peitschen, um den Turm zu decken und nach dem Schlagen durch den Springer auf dem Feld f4 „ablösen“ zu können. (Wie hätte ich mich auch Garri Kasparow widersetzen können?)
Ich opferte also tatsächlich die Qualität in der vagen Hoffnung, durch das Öffnen von Linien und Diagonalen entscheidende Schneisen im Angriff auf den gegnerischen König zu schlagen. Ein rein spekulatives Unterfangen, das ich trotz mehrminütigen Zeitverbrauchs nicht gründlich durchdacht hatte.
Es folgte ein Desaster. Nach meinem Qualitätsopfer wendende sich die Partie nämlich vollständig, war der Gegner plötzlich im Vorteil, und zwar deutlicher, als ich es je war. Und natürlich war auch rein gar nichts von (m)einer erträumten Figurenüberzahl im Angriff zu sehen.
Obwohl ich auf eine Schummelchance hoffend noch exakt weitere zwanzig Züge wie ein kraftloser Kaffeehausspieler mitzog, war das Spiel ab da gelaufen. Mein erfahrener Gegner ließ mich nicht noch einmal zurückkommen.
Der Ritter an der Wand schüttelte mitleidig den Kopf.
Es nagte an mir, dass ich meine verheißungsvolle Position durch meine eigene – ja, was war es eigentlich, Unüberlegtheit (?) – verspielt hatte. Schon einige Züge VOR meiner Kapitulation hätte ich die Waffen strecken können.
Waren die vielen sündigen Internet-Blitzpartien verantwortlich, in welchen es Entscheidungen oft mehr nach Gefühl zu treffen gilt? War am Ende nicht ich, sondern gar Kasparow schuld an dieser Tragödie? Oder vielleicht sogar der schweigsame Ritter, dessen ständiges Anstarren mich womöglich unter Druck gesetzt hat? Hat dieser meine Leichtigkeit vertrieben und gleichzeitig mein lächerliches Bedürfnis, zu brillieren wie Kasparow, angestachelt? Sind er und andere Kiebitze dafür verantwortlich, dass ich in vorteilhaften Stellungen oft nicht ruhiger werde wie andere Spieler, sondern im Gegenteil, angesichts des möglichen Sieges noch nervöser?
Sei’s drum. Mein Gegner musste jedenfalls nicht brillieren – sondern nur locker bleiben und die Chance nutzen, die ich ihm auf dem Silberschachbrett serviert habe.
Am schmerzlichsten war, dass der Mannschaftswettkampf schließlich 4:4 unentschieden endete. Hätte ich‘s nicht so fahrlässig verdaddelt (anders mag ich das nicht nennen), hätten wir wahrscheinlich gewonnen.
‚EINMAL wie Kasparow glänzen’ war mein Ansinnen und leider bleibt als Fazit nur die bittere Erkenntnis, dass mein riskanter und NICHT von konkreten Varianten untermauerter Doppelfragezeichenzug mit dem g-Bauern der partieentscheidende Fehler war.
Die Frage, die auch der Auslöser für diesen Text war, bleibt weiterhin unbeantwortet: Wie kann ich unnötige Fehler in vorteilhaften und eigentlich risikolos spielbaren Mittelspiel-Stellungen, die mir schon allzu oft passiert sind, endlich abstellen?
Na ja, womöglich habe ich mir diese Frage ja auch bereits selber beantwortet. Irgendwo weiter oben.
Inzwischen bin ich zumindest um eine andere Erkenntnis reicher: Kasparow hätte im 20.Zug NIEMALS den Bauern nach g5 gespielt! Das zumindest hat mir die Rittergestalt bei meinem traurigen Auszug aus dem Turniersaal noch vertraulich zugeflüstert.