Zu viele Großmeister im Schach?

Droht der höchste Titel im Schach der Beliebigkeit anheimzufallen? Und wenn ja, ist das ein Problem? Was tun wir dagegen? Damit befasst sich der neueste ausführliche Schachbeitrag in der New York Times.

Eines hat sich im Lauf der Jahrhunderte nicht geändert: Der “Großmeister” markiert in der öffentlichen Wahrnehmung den Gipfel spielerischer Exzellenz, außergewöhnliches Talent, strategische Brillanz und Hingabe an das Spiel. Geändert hat sich die Zahl der Großmeister, heute 1850, früher 27, noch früher 5. Erheblich erweitert hat sich die Leistungsklasse, in der sich Großmeister bewegen. Wer heute 2500 Elo hat, ist aus Sicht des Normalsterblichen gewiss ein großer Meister, spielt aber in einer ganz anderen Liga als jemand mit 2700 oder gar 2800.

Wer GM ist, ist heute eine/-r von etwa 1850. Und die Quote wird eher schlechter.

Bereits im 19. Jahrhundert tauchte der Begriff “Großmeister” im Schach auf, zunächst ohne offizielle Verleihung oder standardisierte Kriterien. Legendäre Figuren wie Philidor oder Siegbert Tarrasch wurden aufgrund ihrer außergewöhnlichen Leistungen und ihres Einflusses auf das Spiel informell als Großmeister angesehen.

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Einen Meilenstein in der Geschichte des Großmeistertitels markiert das Jahr 1914. Im Rahmen des St. Petersburger Turniers verlieh Zar Nikolaus II. von Russland den fünf Finalisten, darunter Emanuel Lasker und Alexander Aljechin, den Titel Großmeister. Obwohl die Umstände dieser Verleihung umstritten sind und einige Historiker ihre Gültigkeit anzweifeln, markiert sie dennoch einen frühen Versuch, den Status der besten Schachspieler formell anzuerkennen.

1950 schließlich formalisierte die FIDE die Titel Großmeister (GM), Internationaler Meister (IM) und Frauenmeisterin (WM, später als Internationale Damenmeisterin oder WIM). Anfänglich vergab die FIDE Titel auf der Grundlage von Resolutionen, die von ihrer Generalversammlung und ihrem Qualifikationskomitee verabschiedet wurden. Diese Methode war jedoch nicht unumstritten, da sie zu subjektive Entscheidungen führte. Klare, objektive Kriterien fehlten. Unter den 27 ersten FIDE-Großmeistern war niemand, der das Jahr 1950 nicht erlebte. Lasker, Capablanca oder Aljechin etwa wurden nicht posthum zu Großmeistern ernannt.

Als es Friedrich “Fritz” Sämisch Mitte der 1950er in Stuttgart so gut gefiel, dass er gar nicht gehen wollte, war er schon Großmeister. Die FIDE hatte ihn und 26 andere große Meister des Spiels 1950 dazu ernannt.

Friedrich Sämisch wurde 1950 auf Anhieb Großmeister. Efim Bogoljubow hat zwei WM-Kämpfe gespielt, war zwischen den Weltkriegen Weltklasse, bekam aber 1950 keinen Titel. Der Grund war eher politischer denn sportlicher Natur. Bogoljubow, aus der Sowjetunion nach Deutschland emigriert, bekam den Titel mit einem Jahr Verspätung 1951 gegen den Widerstand der Verbände kommunistischer Länder (außer Jugoslawien). Eine FIDE-Entscheidung pro oder contra GM Bogoljubow endete 13:8.

Einen Wendepunkt in der Geschichte des Großmeistertitels markierten 1970 am Rande der Schacholympiade in Siegen die Vorschläge von Wilfried Dorazil, einem FIDE-Vizepräsidenten, und seinen Kollegen, darunter Großmeister Svetozar Gligorić und Professor Arpad Elo. Sie führten zu einem neuen Systems, das auf Basis der Elozahl Normen und Turnierkategorien einführte. Damit war erstmals eine vermeintlich objektive und transparente Methode eingeführt, um Spielstärke und Turnierleistungen zu messen.

Nigel Short, selbst Großmeister und Direktor für Schachentwicklung bei der FIDE, missfällt die Entwicklung seitdem, sagte er der NYT. Laut Short gibt es zu viele Großmeister, wodurch der Titel an Bedeutung verliere. Als er ein aufstrebender Junior gewesen sei, habe es 100 GM gegeben, jetzt 1850. Short verwies auf Deutschland mit 99 Großmeistern (“Dort bin ich als Großmeister einer von vielen”) und nannte Jacob Aagaard, Elo 2426, und Magnus Carlsen, Elo 2832, als Beispiele für das Spektrum, das dieser eine, höchste Titel beschreibt. Aagaard ist seit Jahren vor allem Trainer, seit neuestem auch Verleger, und er wird bis ans Ende seiner Tage genau wie Carlsen ein Schachgroßmeister sein.

Er versteht das Spiel besser, tiefer als andere, aber diese anderen sind auch GM. Immerhin, Carlsen kann den Unterschied daran festmachen, dass er 17 Weltmeistertitel gewonnen hat. (Text für Abonnenten)

Emil Sutovsky, CEO der FIDE, teilt Shorts Sichtweise nicht. Sutovsky argumentiert, dass die Zahl der Spieler insgesamt gewachsen und daher die Anzahl der Großmeister im Verhältnis sogar gesunken ist.

Fabiano Caruana, Nummer drei der Welt, Elo 2795, glaubt auch, dass ein Aagaard und ein Carlsen mit demselben Titel die allgemeine Öffentlichkeit verwirren. Caruana sieht Elo-Ratings als wichtigeres Unterscheidungsmerkmal. Dem wiederum widerspricht Short. Die breite Öffentlichkeit sei nicht im Detail mit Ratingnuancen vertraut. Short verweist auf die die Berichterstattung über den Sieg des achtjährigen Ashwath Kaushik über den Großmeister Jacek Stopa. In den allgemeinen Medien zählte “Großmeister besiegt!”, aber nicht Stopas abnehmende Spielstärke. Mit einer Elo von 2333 bewegt sich der 36-Jährige nicht mehr auf Großmeisterlevel, obwohl er einer ist.

“…besiegt Schachgroßmeister”, gewiss eine schöne Schlagzeile. Wen interessiert schon, dass es sich um einen Schachgroßmeister mit 2333 Elo handelte?

Zur Unterscheidung der Fähigkeiten von Großmeistern gibt es den informellen Titel “Super-Großmeister” für Spieler über 2700 Elo. Short hält davon wenig, Yasser Seirawan auch. Seirawan schlägt stattdessen vor, die besten zehn Spieler als “All-Stars” zu bezeichnen, eine Auszeichnung, die alle sechs Monate erneuert wird.

Die Rücknahme des Titels für Spieler, die die Kriterien nicht mehr erfüllen, ist laut Sutovsky keine Option. Der Titel ist lebenslang. Der Versuch, ihn jemandem wegzunehmen, könnte zu rechtlichen Problemen führen. Nigel Short glaubt, dass der Titel längst “verwässert” ist, Ende der Geschichte. Das Problem sei nicht mehr lösbar. Short vergleicht es mit einem entlaufenen Pferd, das nicht mehr eingefangen werden kann.

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Thorsten Cmiel
Thorsten Cmiel
3 Monate zuvor

Das ist eine völlig absurde Phantomdebatte. Wenn es eine sinnvolle Debatte bezüglich Titeln gibt, dann müsste man fragen, warum Jugendspieler bis 2300 einen erhöhten Faktor haben und den FM-Titel leichter erreichen. Wer einen GM-Titel erreicht, also die Normen erfüllt, muss dafür mindestens so viel Zeit investieren wie bei einem Doktortitel. Den verliert man auch nicht weil man die Disziplin wechselt oder pensioniert ist. Die Elozahlen sind ein guter Gradmesser der aktuellen Spielstärke und damit dem Ranking. Wenn man Supergroßmeistern eine andere Bezeichnung geben will, okay. Aber das interessiert niemanden und verständlicher wird es ebenfalls nicht.

Gerhard Lorscheid
Gerhard Lorscheid
3 Monate zuvor

Wie wäre es allen einen Titel zu geben, die einmal unter den TOP 100 der Welt waren. Ein System, dass sich der ELO Inflation oder Deflation anpasst.

Bernd
Bernd
3 Monate zuvor

Man könnte den Super GM Titel für Spieler jenseits der 2700 seitens der Fide formal einführen, und schon hätte man eine überschaubare Anzahl

CoachJaxx
CoachJaxx
3 Monate zuvor

Diese Frage gefährdet Geschäftsmodelle 🙂

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[…] Zu viele Großmeister im Schach? […]

M. Schütt
M. Schütt
3 Monate zuvor

Erst einmal großen Dank für den Artikel. Ich sehe es ebenfalls als schwierig, jemanden als Großmeister einzuordnen, der die Barriere von 2500 unterschritten hat. Den Titel jemanden wegzunehmen, halte ich jedoch ebenfalls für falsch, schließlich wurde er einmal erworben respektive erreicht und sollte dann auch behalten werden dürfen. Jemand, der nicht mehr aktiv an Turnieren teilnimmt oder unter diese Barriere von 2500 gefallen ist, könnte man auch mit einem “a.D.” versehen. Das macht es auch für den Betrachter von Außen klarsichtbar, dass jemand der Training gibt oder jemand, der einmal besiegt worden ist, wie z.B. von dem 8jährigen, nicht mehr… Weiterlesen »

joschi
joschi
3 Monate zuvor

Yasser Seirawans soll seinen Kopf aus dem amerikanischen Sand holen! All-stars? Was für ein Unsinn. Ideal für die Staaten, unpassend für den Rest der Welt.
Titel verlieren an Bedeutung. Wenn ich ein Mail bekomme und im Adressfeld steht der Titel schrillen meine Alarmglocken.
Also bitte keine neuen Titel.

Lg Joschi (übrigens korrekterweise Dr. Joschi 😉

P.S.: Ich denke nicht, dass Carlsen für seinen GM so hart arbeiten musste, wie ich für meinen Doktortitel…