Ein anderer Nachruf auf Gerhard Hund

Gerhard Hund kannte ich persönlich seit der Computerschach-WM 1999 in Paderborn. Da hatte er auch das Foto gemacht, was jetzt auf meiner Wikipedia-Seite hängt. Beim Durchblättern meines damals neuen “3-Hirn-Buchs” blieb er an einer Stelle hängen. “Herr Althöfer” – wir siezten uns noch – “was ist denn ein Trippelbauer?” Ich: “Naja, drei Bauern hintereinander auf derselben Linie.” Er lächelnd: “Okay, da ist es dann ja auch so voll, dass die nur trippeln können.” Erst da wurde mir klar, dass die richtige Schreibweise “Tripelbauer” gewesen wäre.

Gerhard Hund (1932-2024)

Mathematiker, Informatiker, ein Meister am Brett (Ingo-Zahl 52) und ein Pionier des Schachs im Netz. Die Wikipedia verdankt Gerhard Hund tausende Einträge sowie Fotos, und die deutsche Schachgeschichte wäre im Netz lückenhaft dokumentiert, gäbe es nicht Gerhard Hunds Teleschach. Die Website der Deutschen Schachjugend hat er betreut und war der Jugend zeitlebens verbunden. Bis zuletzt hat Gerhard Hund auf Lichess Schach gespielt und auf Facebook seinen Freundes- und Bekanntenkreis auf dem Laufenden gehalten. Dort teilte er am 8. Juni mit: “Ich liege im Krankenhaus.” Am 21. Juni ist Gerhard Hund gestorben.

Nachruf beim Deutschen Schachbund
Nachruf bei Chessbase
Thread im Schachfeld
Gerhard Hund bei Facebook
Gerhard Hund bei Lichess
Kondolenzliste auf Wikipedia

Im September 2019 habe ich Gerhard auf einer Recherche-Reise in Freiburg besucht. Er wollte guter Gastgeber sein und fragte, ob Tee oder Kaffee oder Saft. Meine Antwort: “Gerd, ich kann nur dreieinhalb Stunden bei Dir sein. Lass uns die Zeit nutzen für Austausch und Erzählen. Gib mir einfach ein Glas Leitungswasser.” So passierte es, und dann erzählte er: über seine Jugend in Jena, seine Eltern, Darmstadt, seine Arbeit bei Bayer in Leverkusen, natürlich über seine tolle Familie.

Gerhard Hund (links) erklärt Ingo Althöfer, Autor dieses Beitrags, seine intelligente Uhr, als sie im selben Moment das Foto aufnimmt, gesteuert durch Antippen. Die Uhr gibt den Befehl an eine Kamera weiter. Sie kann unter vielen anderen Funktionen auch einen Notruf absetzen, da sie geortet werden kann. | CC BY-SA 4.0 via Wikipedia

Und auch über sein neuestes Gimmick: eine elektronisches Armbanduhr, mit der er seine Kamera auslösen konnte. Damit entstand das Foto von uns beiden auf seiner Wiki-Seite, obwohl wir keine langen Arme hatten. Irgendwann zwischendurch schaute Tochter Barbara Hund mal kurz rein und war überrascht, mich zu sehen. Wir kennen uns seit einer Partie bei der Deutschen Jugendfernschach-Meisterschaft 1977-1981. Gerhard zeigte mir auch ein paar Medaillen und Urkunden aus der Familiengeschichte.

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Und dann musste ich schon wieder ins Tal runter zum Bahnhof rennen. Im Zug bis zur nächsten Station in Karlsruhe schrieb ich alles Gehörte erst einmal auf Notizzettel. Die Zettel sind inzwischen verloren, aber das wichtigste davon steht unten.

Der Vater von Gerhard war der bekannte Physiker Friedrich Hund, Mutter war die Mathematikerin Ingeborg Hund, geborene Seynsche. Beide hatten in Göttingen promoviert: Friedrich 1922 bei Max Born, Ingeborg 1930 bei Alwin Walther und Harald Bohr. Sie heirateten 1931 und zogen nach Leipzig, wo Gerhard Hund 1932 als ältestes von sechs Kindern geboren wurde.

An der Uni Leipzig war Friedrich Hund der Assistent von Werner Heisenberg. Im Vorlesungs-Verzeichnis hieß es an einer Stelle: Atomphysik I, bei Heisenberg mit Hund. Das hatte Friedrich mit dem Schalk im Nacken so formuliert. Friedrich wurde Professor für Kernphysik an der Universität in Jena. Dort wohnte die Familie in der schönen Otto-Devrient-Straße, in der viel später eine meiner Doktorandinnen im direkten Nachbarhaus lebte. Vater Hund war 1948 für ein knappes Jahr sogar Rektor an der Friedrich-Schiller-Universität. Weil die sowjetischen Besatzer ihn oft gängelten, trat er zurück.

Friedrich und Ingeborg Hund mit fünf ihrer Kinder, darunter (Mitte, mit Brille) der älteste Sohn Gerhard. | CC BY 3.0 via Wikipedia

Das humanistische Abitur legte Gerhard 1950 in einer eigentlich reinen Mädchenklasse ab; es gab nur zwei Jungs: der eine war sehr gut in alten Sprachen, der andere, das war Gerhard, sehr gut in Mathe und Physik. Die beiden wurden ein wunderbar eingespieltes Abschreib-Team, bis hin zu den Abi-Klausuren. Der “humanistische” Mitschüler ging irgendwann nach Luxemburg.

Weil die Familie Hund bürgerlich war, Bauern und arbeiten nur vom Schach kannte, war nicht klar, ob oder wie die Kinder in der DDR würden studieren dürfen. Deshalb wechselte die Familie 1951 in den Westen, nach Frankfurt. Dort setzte Gerhard sein in Jena begonnenes Mathematik-Studium fort.

** Gerhard und seine Frau Juliane

Als Gerhard sie das erste Mal bei einem Schachabend traf, war er etwas verstört. Sie war wohl eine verrückte Nudel, und er dachte zuerst, sie sei kein Fall für ihn. Zum Glück änderte er diese Einstellung. Die beiden heirateten und bekamen vier Töchter: Susanne, Barbara, Isabel und Dorothee. Auch einen Adoptivsohn nahm die Familie auf: Allart.

Allart, Juliane, Susanne, Isabel, Barbara, Dorothee und Gerhard (von liks) auf der heimischen Treppe 1970 zum Karneval. | CC BY-SA 3.0 via Wikipedia

Zu diesem Karnevals-Familien-Foto der Hunds von 1970 gibt es eine wunderbar gemalte Vorlage von 1888 des Malers Friedrich August von Kaulbach:

Friedrich August von Kaulbachs Bild Kinderkarneval zeigt die fünf Kinder der Familie Pringsheim, darunter (links) Katia, spätere Mann. Thomas Mann hatte lange, bevor er seine spätere Frau kennenlernte, eine Reproduktion des Bildes in seinem Zimmer hängen. | via luebecknews.de

** Das IPM in Darmstadt und die V2-Ballistik

Ich muss ausholen, damit der Leser den kleinen Absatz am Ende, in dem Gerhard Hund vorkommt, einordnen kann.

An der TH Darmstadt gab es das IPM = Institut für Praktische Mathematik. Gegründet 1932, aufgebaut und geleitet bis zum Ende des Instituts 1967 durch Prof. Alwin Walther, 1898 – 1967.

Dieser Alwin Walther war derselbe, bei dem Gerhards Mutter Ingeborg Seynsche Doktorandin gewesen war.

Am IPM wurde die Ballistik für die A4-Rakete entwickelt, die im Weltkrieg als Vergeltungswaffe V2 vor allem gegen London und Antwerpen eingesetzt wurde. In Peenemünde waren die Hardware-Entwicklungen und “Flug”tests mit Wernher von Braun als Chefentwickler. A4-Chef-Ballistiker im IPM war PD Dr. Lothar Collatz, der nach dem Krieg einer der Väter der westdeutschen Numerischen Mathematik wurde. Als “Adlatus” von Collatz in Darmstadt diente ein Rudolf Zurmühl, ein paar Jahre älter als Collatz. Zurmühl war aber vom Wesen her keine Führungsfigur.

Im März 1945 ließ Walther vor dem Einmarsch der Amis alle Unterlagen zur V2-Entwicklung in Darmstadt verbrennen. Als nach dem Krieg klar war, dass die Amis die V2 eher interessant als schrecklich fanden, forderte Walther Lothar Collatz auf, einen wissenschaftlichen Artikel zur V2-Ballistik zu schreiben. Collatz weigerte sich, wohl weil er Angst hatte, dass ihm aus der Mitarbeit bei der V2 irgendwann ein Strick gedreht werden könnte. Die gute Seele Zurmühl übernahm dann den Artikel, der auch 1947 in der FiAT-Buchreihe erschien. Collatz nahm ihm das zeitlebens übel.

Der erste V2-Einschlag in London passierte am 8. September 1944 abends. Die Engländer “ahnten”, dass Darmstadt an der Entwicklung beteiligt war – in Peenemünde waren etwa ein Drittel der Ingenieure von der TH Darmstadt – und flogen in der Nacht vom 11. auf den 12. September 1944 einen fürchterlichen Vergeltungs-Angriff auf Darmstadt, mit mehr als 12.000 Todesopfern in der einen Nacht.  So ähnlich hatten sie nach den frühen V1-Angriffen Mitte Juni 1944 im Juli 1944 – gegen den Willen der amerikanischen Partner – schon einen Großangriff auf Stuttgart geflogen gehabt.

In der Brandnacht von Darmstadt starb auch Collatz’ Kollege Dr. Ulrich SinoGOwitz, der auch sein Go-Spielfreund war und mit ihm 1940-41 auch eine V2-Version des Spiele-Klassikers “Schiffe versenken” erfunden hatte.

Jetzt kommt “endlich” Gerhard Hund ins Spiel. Er hatte 1955 in Frankfurt sein Diplom in Mathe erworben und ging dann als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das IPM. Vermittelt hatte das interessanterweise nicht seine Mutter, sondern eine Tante, die einfach Alwin Walther ansprach.

Schon in einer der ersten Wochen am IPM bekam Gerhard vom Instituts-Tratsch mit. Sinngemäß: “Dahinten, der alte Kochen. Das ist Dr. Zurmühl. Der hat es damals mit dem V2-Beschuss auf London versaut. Der hat die Coriolis-Kraft falsch einberechnet, so dass die meisten V2 zu kurz kamen und im Osten statt im Zentrum von London einschlugen.”

Es war aber anders gewesen, was erst durch Schriften von David Irving bekannt wurde: Die Engländer hatten ALLE – drei – deutschen Agenten in London umgedreht und diese dazu gebracht, die Einschlagorte der V2 als zu weit westlich in London zu melden. So zielten die Deutschen kürzer und trafen vorwiegend die ärmeren Stadtteile im Osten. Das gab dann sogar im Winter 1944-45 einen nichtöffentlichen Skandal im britischen Parlament: Darf man einen Teil des Bevölkerung schützen, indem man die Feinde in eine falsche Richtung schießen lässt, wo dann aber andere zu Opfern werden? Natürlich waren die Ostlondoner über die gefälschten Geheimnachrichten NICHT informiert worden.

Gerhard Hund spielte in Darmstadt nicht nur Schach, sondern auch Go, sogar auf Dan-Level. Siehe das Foto, was Gerhard links zeigt:

Gerhard Hund, John Niemann, H.-P. Engelhardt und Peter Schnell (von links), Februar 1959 in Darmstadt beim Go. | CC BY-SA 3.0 via Wikipedia

Auf meine Frage: „Ihr habt also am IPM auch Go gespielt?“, erwiderte er etwas entrüstet: „Natürlich nicht, sondern nur abends nach Dienstschluß.“

** Lösen großer linearer Gleichungssyteme bei Bayer

In der Schule und an der Uni lernt man für das Lösen linearer Gleichungssysteme vor allem das Gauß-Verfahren. Aber so gut, wie es für Systeme mit wenigen Variablen taugt und wie elegant man Theorie dazu machen kann: Bei der Modellierung großer Instanzen aus den Anwendungen sind Iterationsverfahren oft viel besser, so auch bei Produktionsplanungssystemen in der chemischen Industrie. Gerhard überwachte bei Bayer große Computerprogramme für Gleichungssysteme persönlich. Wenn die Konvergenz nicht so schnell wie erwartet passierte, wusste er: Da muss beim Aufsetzen der Systeme etwas falsch gelaufen sein – und so war es immer auch.

** Gerhard Hund und Wikipedia

Bei den Wikipedianern prallen oft zwei Philosophien aufeinander: Die einen überlegen, wo man etwas weglassen könne oder wo etwas zu ausführlich oder zu stark bebildert sei und kürzen dann.

Diese Leute meinen es gut. Aber für die Gegenseite, zu der an prominenter Stelle Gerhard gehörte, gibt es viele und gute Gründe, ausführlicher zu sein. Mir haben von Gerhard geschriebene und erweiterte Artikel bei Recherchen zur Schach- und Mathematik-Geschichte oft geholfen.  Ebenso seine vielen bei Wikipedia eingestellten Bilder.

Ein Vorteil von Wikipedia ist, dass man über die History-Liste auch ALLE alten Versionen eines Artikels lesen kann, also zum Beispiel auch die, die Gerhard mal weit gemacht hatte, bevor die Kürzer wieder zuschlugen. Ich bewunderte manchmal seine Geduld im Umgang mit den “Minimalisten”.

Was man schon wenige Stunden nach Gerhards Tod in etlichen von ihm erstellten Wikipedia-Artikeln beobachten konnte, kann man als digitale Leichenfledderei bezeichnen. Aber zum Glück gibt es ja die Historien-Funktion…

Nachsatz

Der genannte Herr Zurmühl war übrigens Mitte der 1950er so schlecht bezahlt, dass er Studenten auf Prüfungen vorbereitete und in mindestens einem Fall auch statt des Prüflings in die Klausur ging. Das flog wegen seiner langen Ohren auf und gab gewaltigen Ärger. Erst als Zurmühl seine zweite Frau kennenlernte, kam wieder Struktur in sein Leben. Gerhard hatte das Glück schon mit seiner resoluten Juliane erwischt.


Über den Autor: Der Mathematiker und Informatiker Prof. Dr. Ingo Althöfer lehrt und forscht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Althöfer ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Veröffentlichungen, darunter einige, in denen das Spielen auf die eine oder andere Weise eine Rolle spielt. Althöfer ist Erfinder einiger Spiele. Im Schach beschäftigt ihn unter anderem die Kooperation von Mensch und Maschine. Als mit Neuronen operierender, bestimmender Teil seines “3-Hirns” gelang ihm 1997 ein Matchsieg über Artur Jussupow. Freistil-Schach hatte Althöfer schon erfunden, bevor es 20 Jahre später in ganz anderer Form in Ostholstein wieder auftauchte. Wikipedia-Seite von Ingo Althöfer

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BaronvonSchöntau
BaronvonSchöntau
3 Monate zuvor

Der Artikel hinterlässt einen üblen Beigeschmack wegen der nostalgisch-anekdotischen Darstellung der Nazi-Rüstungsindustrie. Das ist schlimm genug. Ich bitte aber um Klarstellung, ob mit David Irving der “Historiker” und Holocaustleugner oder eine zufällig namensgleiche Person zitiert wird.

Ingo Althöfer
Ingo Althöfer
3 Monate zuvor

Ich mag mich nicht von einem politischen Korrektnik aus anonymer Deckung heraus anpöbeln lassen. Deshalb von mir hier nur noch so viel: Es hat alles Hand und Fuß, wass in meinem “anderen Nachruf” steht. Warum die Beschäftigung mit dem Leben von Lothar Collatz bei mir ein Trauma ausgelöst hat, werde ich später mal an anderer Stelle erklären.

Ingo Althöfer.