Matt auf a1: Houston, Ihr habt ein Problem

Während in Kasachstan Ding Liren und Ian Nepomniachtchi um die irdische Schachmeisterschaft spielten, lief 400 Kilometer über der Erdoberfläche ein Match um die außerirdische. Die Astronauten Frank Rubio, Woody Hoburg, Sultan Alneyadi und Steve Bowen triumphierten in der ersten Partie über ihre Kollegen im Mission Control Center der NASA im Johnson Space Center, Houston.

Der Astronaut und begeisterte Schachspieler Woody Hoburg hatte den schachlichen Vergleich zwischen ISS und Mission Control initiiert, Hoburg darf als Hauptverantwortlicher dafür gelten, dass die ISS gewann. Spätestens als im 32. Zug die schwarze Dame der Astronauten mit Matt auf a1 in der weißen Rochadestellung einstieg, dürfte allen Beteiligten in Houston aufgegangen sein, dass sie ein Problem haben.

Dame a1 matt, und aus – im Video: die Partie der siegreichen Astronauten unter der Analyselupe vom Bodensee.

Die begrenzte Freizeit der Astronauten und der Bodencrew hatte einen bis zwei Züge pro Tag erlaubt. Über Wochen zog sich die Partie hin. Und als sie beendet war, wurde im All wie in Houston sogleich neu aufgebaut. Die zweite Partie zwischen der ISS-Besatzung und Mission Control läuft schon.

Werbung

Schachpartien zwischen Weltraum und Erde haben eine lange Tradition. Die Geschichte des Schachs im All begann schon, bevor am 12. April 1961 Juri Gagarin als erster Mensch die Atmosphäre verließ. Eine Woche vorher, auf dem Flug zum Weltraumstartplatz in Kasachstan, dem Kosmodrom Baikonur, vertrieb sich Juri Gagarin die Zeit – mit Schach. Wenig später sollte er ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte aufschlagen.

Auf dem Weg zum Weltraumstartplatz: Juri Gagarin spielt Schach. | via FIDE

Der erste Mann im All interessierte sich gar nicht einmal besonders für Schach, nicht mehr jedenfalls als der durchschnittliche Sowjetbürger jener Zeit. Aber die Partie an Bord des Fliegers zum Startplatz symbolisiert, dass das Schachspiel seitdem ein ständiger Begleiter der Männer und Frauen im Weltraum ist. Später, als die Kosmo- und Astronauten wesentlich mehr Zeit im All verbrachten als Gagarin während seiner knapp zweistündigen Erdumrundung, sollten Schachbretter zur Weltraum-Standardausstattung werden.

Die Weltraumpioniere aus der Sowjetunion mussten allerdings erst einmal ein weltraumtaugliches Brett entwickeln. Magnetische Spielsteine waren in der Schwerelosigkeit nicht erlaubt. Sie könnten die Instrumente an Bord stören. Die Ingenieure bauten ein Spezialset mit Stiften und Rillen, um die Figuren an ihrem Platz zu halten. Dieses erste Schachbrett im Weltraum befand sich 1968 und 1969 an Bord der Sojus-3- und Sojus-4-Kapseln.

Magnete verboten, stattdessen Stifte und Rillen: das erste Weltraum-Schachbrett. | Foto: Chad Cullen/National Air and Space Museum, Washington

Am 9. Juni 1970 spielten die Kosmonauten Andrian Nikolajew (Kommandant der Mission) und Witali Sewastjanow (Flugingenieur) an Bord des Raumschiffs Sojus 9 eine Beratungspartie gegen zwei Kollegen auf der Erde: Viktor Gorbatko (ebenfalls Astronaut) und Nikolai Kamanin (sowjetischer General und Leiter des Astronautentrainingsprogramms) – die erste Partie zwischen Weltraum und Erde.

In dieser ersten Partie funkten die beiden Parteien ihre Züge einander per Radiosignal zu. Der Vergleich entwickelte sich zu einer umkämpften, langwierigen Angelegenheit. Als die Partie nach sechs Stunden remis endete, hatte das Raumschiff währenddessen vier Mal die Erde umrundet.

Es war die Idee der beiden Schach spielenden Kosmonauten gewesen, ein Brett mit ins All zu nehmen. Die Psychologen des Raumflug-Teams hatten anfangs Bedenken geäußert: Eine verlorene Partie könne zu “unnötigen negativen Emotionen” bei den Verlierern führen. Die beiden Kosmonauten versicherten, dass nichts dergleichen passieren würde, sie seien erfahrene Schachspieler. Schließlich bekamen sie die Genehmigung, ihr Schachbrett mitzunehmen.

Sewastjanow und Nikolajew verbrachten 18 Tage im Weltraum, damals ein Rekord. Ihre Mission diente der Erforschung der sozialen und psychologischen Auswirkungen eines längeren Weltraumaufenthalts. Nach ihrer Heimkehr signierten sie im November 1970 das Schachbrett, das sie in der Schwerelosigkeit benutzt hatten. Außerdem verewigten sich der damalige Weltmeister Boris Spassky, Exweltmeister Mikhail Botvinnik, Igor Bondarevsky, Alexander Kotov, Salo Flohr und Andor Lilienthal darauf. Sotheby’s versteigerte das Brett 2018 für 1.250 Dollar.

Witali Sewastjanow war ein begeisterter Schachfan. Dem Spiel war der zweifache „Held der Sowjetunion“ so sehr verbunden, dass er von 1977 bis 1986 und 1988/1989 Präsident des Schachverbands der Sowjetunion werden sollte. In jenen Jahren, als sowjetische Spieler das Schach dominierten, als Kasparow und Karpow manche politische Partie austrugen, spielte der Kosmonaut eine zentrale Rolle.

Nicht nur die Kosmonauten brachten das Schachspiel in den Weltraum. Viele ihrer amerikanischen Kollegen, die Astronauten, waren ebenfalls begeisterte Spieler, darunter der erste Mensch auf dem Mond Neil Armstrong (1930-2012). In seiner Biografie von Leon Wagener (“One Giant Leap“, siehe rechts) erzählt der Autor, dass Neil Armstrong mit seinem sechsjährigen Sohn Mark Schach spielte, während er nach seiner Rückkehr vom Mond in Quarantäne war.

Im Gegensatz zu den Sowjets haben die Amerikaner keine speziellen Schachbretter für die Schwerelosigkeit entwickelt. Stattdessen griffen sie auf einfache, mit Klettverschluss versehene Plastikfiguren zurück. Auf so einem Brett spielte NASA-Astronaut Greg Chamitoff 2008.

Klettverschlüsse: Greg Chamitoff, der erste Simultanspieler im All, mit Schachbrett. | Foto: NASA

2008 taten sich die NASA und der US-Schachverband (USCF) zusammen, um eine Partie zwischen dem Astronauten Greg Chemitoff und der Erde auszutragen. Schüler vom Schachklub der Stevenson Elementary School in Bellevue, Washington, schlugen gute Züge vor. Die USCF koordinierte die weltweite Abstimmung über die Vorschläge der Kinder.

Wegen der Abstimmungsprozedur zog sich die Partie über Monate hin – und erregte einiges öffentliches Aufsehen. 38 Jahre  nach der ersten Partie war die Marke „Erde gegen Weltraum“ erfunden. Chamitoff verlor die Partie gegen die Erde.

Zuvor war Chamitoff, ein veritabler Amateur, zum ersten Mann geworden, der im All simultan spielt. Gegen eine Bodenstation zu spielen, hatte sich als keine Herausforderung erwiesen. Während er also an Bord der ISS mit etwa 28.000 km/h um die Erde raste, spielte er zugleich gegen die Kontrollzentren in Houston, Moskau, Japan und Deutschland.

Am Brett hatten die Betreuer auf der Erde wenig zu bestellen, trotzdem sahen sie diese Vergleiche als Gewinn für die Zusammenarbeit: „Greg hat uns gezeigt, dass wir ihn als Team nicht schlagen können, wenn wir nicht zusammenarbeiten“, sagte Flugleiterin Heather Rarick in einem Interview. „Wir müssen zusammenarbeiten, unterschiedliche Fähigkeiten einbringen, und wir lernen mehr übereinander und über die Crew.“

Am 9. Juni 2020 zur Partie, die das 50-jährige Jubiläum von Schach zwischen All und Erde feiern sollte, brauchten die Kosmonauten Anatoli Iwanischin und Iwan Wagner an Bord der ISS kein Brett. Sie spielten online am Laptop gegen den russischen Vorzeigegroßmeister Sergey Karjakin.

5 6 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

1 Kommentar
Most Voted
Newest Oldest
Inline Feedbacks
View all comments
Mulde
Mulde
11 Monate zuvor

Das erregt … offenbar mehr Aufmerksamkeit als die Weltmeisterschaft, über deren Ende man erstaunt war, weil man vom Start gar nichts mitbekommen hatte. Ebenso wie der ehemals aktive DSB braucht eben auch die FIDE – und die ICCF – eine wahrnehmbare Öffentlichkeits-Tätigkeit.