Gerhard Bertagnolli, WM-Schiedsrichter

Vor gut zwei Wochen dachte Schach-Schiedsrichter Gerhard Bertagnolli, sein nächster Einsatz sei die italienische Mannschaftsmeisterschaft ab dem 25. April. Dann erreichte ihn eine Anfrage des Weltverbands FIDE: ob er beim WM-Match zwischen Ian Nepomniachtchi und Ding Liren in Astana schiedsrichtern könne. Jetzt wird Bertagnolli vier Wochen lang in Kasachstan dafür sorgen, dass es beim Kampf um die Krone des Schachs regelgerecht zugeht. „Als erster Italiener bei einer Schach-WM“, wie der 46-Jährige nicht ohne Stolz feststellt.

Gerhard Bertagnolli (rechts) nach dem Ende der ersten WM-Partie. | Foto: Stev Bonhage/FIDE

Der in Südtirol/Italien lebende, Deutsch parlierende Bertagnolli ist vielen deutschsprachigen Schachspielern von Turnieren nördlich und südlich der Alpen bekannt. Als „International Arbiter“ der Kategorie A ist er einer von etwa 100 Schach-Schiedsrichtern weltweit, die diese höchste Qualifikation vorweisen können, etwas, das zu betonen Bertagnolli nicht sonderlich wichtig ist. Es habe sich halt im Lauf seiner Schiedsrichterei ergeben.

Eigentlich war Gerhard Bertagnolli in erster Linie Schach-Spieler, ein veritabler sogar. Die FIDE führt ihn mit einer Elozahl von 2062 unter den besten 50.000 der Welt. „Aber ich habe gemerkt, dass mir das Talent fehlt, um mit Leichtigkeit besser zu werden. Das hätte viel, viel Arbeit bedeutet“, sagt er mit einem Verweis auf seinen sieben Jahre jüngeren Bruder Alexander, der ihm in Sachen Talent weit voraus sei. Alexander Bertagnolli, Elo 2341, ist sogar IM.

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Gerhard blieb beim Schach, aber wechselte die Disziplin: Er wurde Schiedsrichter, einer, der seine Aufgabe darin sieht, alle Beteiligten an Schachturnieren zu unterstützen. „Wenn ich als Schiedsrichter im Einsatz bin, sehe ich mich als Bindeglied zwischen Spielern und Veranstalter.“

Vor seinem WM-Einsatz, dem Höhepunkt seiner Schiedsrichter-Laufbahn, hat Gerhard Bertagnolli die Zeit gefunden, von Kasachstan aus seine ersten WM-Eindrücke an den Bodensee durchzugeben. Ein Gespräch über kasachische Fünf-Sterne-Hotels, Schiedsrichter-Lampenfieber und seinen Sohn, der ihm den WM-Einsatz erst möglich gemacht hat:

Gerhard, du bist WM-Schiedsrichter. Wie kam das?

Überraschend und plötzlich. Am Samstag vor zwei Wochen bekam ich eine Anfrage der FIDE, ob ich es kurzfristig einrichten könne, als stellvertretender Hauptschiedsrichter das WM-Match zu begleiten. Erst habe ich gedacht, das muss ein Scherz sein.

Der erste April war es nicht.

Aber nicht weit davon entfernt. Und ich hatte das ja überhaupt nicht erwartet. Unter Schachschiedsrichtern spekulieren wir schon seit Wochen, wer denn wohl bei der WM zum Einsatz kommt. Ich habe dazu stets gesagt: „Eines ist sicher, ich bin es nicht.“

Jetzt bist du es doch.

Das musste ich erstmal organisieren, angefangen mit der Frage an meine Frau, ob sie damit einverstanden ist, dass ich vier Wochen weg bin. Ihre erste Antwort war eindeutig: „Nein.“

Oje.

Mein Sohn, der wird bald 15, hat sich dann für mich ins Zeug gelegt. Wie sie mir so eine Gelegenheit verbauen könne, das wäre, als dürfe ein Fußballschiedsrichter nicht das Champions-League-Finale pfeifen und so weiter. Das wirkte. Schließlich sagte sie, ich solle die Sache erstmal mit meinem Arbeitgeber klären.  

Du arbeitest im Kundendienst eines IT-Unternehmens.

Und da habe ich schon übers Wochenende bei meinem Vorgesetzten vorgefühlt. Die FIDE erwartete ja bis Montag eine Antwort. Letztlich habe ich beruflich und auch zu Hause grünes Licht bekommen, und auch bei der italienischen Mannschaftsmeisterschaft, für die ich schon zugesagt hatte, hat sich ein Ersatz für mich gefunden. Nach 21-stündiger Anreise bin ich jetzt hier – als erster Italiener bei einer Schach-WM.

Fakten und Reflektionen zur WM, außerdem: erste Videoclips aus Astana.

Dein Eindruck vom Spielort?

Ein Fünf-Sterne-Hotelkomplex, sehr beeindruckend, auch ungewohnt für mich, der ich eher normale Hotels gewohnt bin. Ich kam morgens um vier an, trotzdem standen Bedienstete bereit, um mir meine Koffer abzunehmen, mich aufs Zimmer zu geleiten und so weiter. Astana wirkt auf mich dem ersten Eindruck nach wie eine sehr moderne Stadt, neue Gebäude, breite Straßen.

Im Hotel ist der gesamte WM-Tross untergebracht.

In der Tat, das ist außergewöhnlich, meines Wissens ein Novum in der WM-Geschichte. Normalerweise logieren die Kontrahenten getrennt und abseits vom Spielort. Hier wohnen sie unter einem Dach. Sie könnten einander während des Matches im Hotel begegnen.

Hast du Ding Liren und Ian Nepomniachtchi schon getroffen?

Ja, gleich am ersten Tag, als die beiden ihren WM-Stuhl wählen sollten. Auch diese Prozedur kannte ich so noch nicht. Bei normalen Turnieren bekommen Spielerinnen und Spieler Stühle hingestellt, und auf denen müssen sie sitzen. Bei einer WM können die Spieler aus mehreren Sitzmöbeln eines wählen. Beide haben einen Stuhl gefunden, mit dem sie zufrieden sind. Später bekamen beide den Spielort gezeigt.

Wie können wir uns den vorstellen?

Ein gläserner, abgeschirmter, erleuchteter Raum, zu dem nur Spieler und eine Handvoll Offizielle Zutritt haben. In der Mitte ein rundes Podest mit dem Spieltisch und den Stühlen. Die Zuschauer sitzen auf der anderen Seite der gläsernen Wand und schauen rein. Draußen wird es dunkel sein, sodass die Spieler nicht das Publikum sehen, aber das Publikum die Spieler. Hinter dem gläsernen Spielraum gibt es zwei Ruheräume, einen für jeden Spieler, auch zwei separate Toiletten.

“Vermeiden, im Bild zu sein”: Gerhard Bertagnolli (rechts hinten, verdeckt) während des Eröffnungszugs der Schach-WM 2023. | Foto: Stev Bonhage/FIDE

Das Cheating-Thema ist im Schach größer denn je. Spielt das auch bei der WM eine Rolle?

Vor den Partien werden die Spieler durchleuchtet, das ist ja mittlerweile eine bekannte Prozedur. Wie wir mit dem Publikum umgehen, müssen wir noch sehen. Entweder müssen alle Zuschauer ihr Telefon abgeben oder es zumindest ausschalten, bevor sie den Raum betreten. Neben uns Schiedsrichtern gibt es einen Fair-Play-Chef, der für solche Dinge zuständig ist, der auch die Spieler im Auge haben wird, wenn sie sich in ihren Ruheraum zurückziehen. Ich sehe uns, die beiden Schiedsrichter und den Fair-Play-Officer, als Team, in dem jeder die Aufgaben der anderen übernehmen kann, falls einer von uns kurzzeitig nicht anwesend sein sollte.

Was wird dein Job sein, wenn es losgeht?

Dem Hauptschiedsrichter assistieren bei allem, was geprüft werden muss. Vor der Partie die Uhr einstellen, die richtigen Formulare bereitlegen, die Stifte testen. Vier Augen sehen mehr als zwei. In den ersten sieben Minuten jeder Partie werden Fotografen Zutritt haben, die werden wir nach Ablauf der Zeit rausschicken, das wird wahrscheinlich ein Kampf (lacht). Während der Partie wollen wir die Spieler durchgehend im Auge haben. Wir müssen noch sehen, wie wir das einrichten, weil im Spielsaal sehr viele Kameras aufgebaut sind, wir aber möglichst vermeiden wollen, im Bild zu sein.

Das Podest mit dem Spieltisch und die Kameras drumherum machen die WM-Umgebung wahrscheinlich zu einer ganz anderen, als du sie gewohnt bist.

Normalerweise kann ich als Schiedsrichter ohne weiteres ans Brett treten, um zu prüfen, ob die Spieler mitgeschrieben haben oder ob die Uhr richtig läuft. Das wird in Astana nicht so leicht sein. Wir werden nach Möglichkeit vermeiden, das Podest zu betreten, aber es kann Situationen geben, in denen das nötig sein wird. Ich hoffe, dass wir am Schiedsrichtertisch ein Bild von den Kameras bekommen, die den Spieltisch erfassen. Das würde unsere Aufgabe erleichtern. Manchmal sehen ja die Zuschauer daheim am Bildschirm mehr als der Schiedsrichter im Turniersaal.

Bist du nervös?

Das kann ich nicht leugnen. Schiedsrichter beim WM-Match zu sein, ist für mich ein Highlight. Ich hoffe, dass alles gut läuft und, am wichtigsten, dass wir keine Fehler begehen. Wenn während des Matches die Leute nur über die Spieler und die Partien reden, nicht über die Schiedsrichter, dann weiß ich, wir haben einen guten Job gemacht.  

https://twitter.com/Bodenseeperlen/status/1645019069395894272
Neben FIDE-Fotograf Stev Bonhage der wahrscheinlich einzige Deutsche bei der WM: DSB-Präsidentschaftskandidat Wadim Rosenstein bei einem Simultan, das Viswanathan Anand in Astana vor Beginn des WM-Matches gab.

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Thomas Steinbacher
Thomas Steinbacher
1 Jahr zuvor

Glückwunsch dazu, auch von deinen Kufsteiner Schachfreunden!

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[…] usw.Dinara Wagner schaut bei der anderen Nationalmannschaft rein. Im Hintergrund wacht WM-Schiedsrichter Gerhard Bertagnolli. | Foto: Paul […]