Weltmeister im was?

Im WM-Match 2016 gegen Sergej Karjakin und 2018 gegen Fabiano Caruana war Magnus Carlsen Favorit. Mit seiner Überlegenheit im klassischen Schach hatte das weniger zu tun. Dass der schwer zu besiegende Russe oder der auf einem Höhenflug befindliche US-Amerikaner die klassischen Partien gegen den Titelverteidiger würden ausgeglichen gestalten können, hielten viele Experten für möglich. Als Favorit galt Carlsen trotzdem, weil er im Schnellschach stärker war als seine Kontrahenten. Käme es zum Tiebreak, würde Carlsen wahrscheinlich gewinnen.

Der Ausknipser im Schnellschach-Stechen 2016: 50.Dh6+!, und Carlsen blieb Weltmeister.

Tatsächlich machte Carlsen seine Klasse in den schnellen Disziplinen 2016 und 2018 zum Weltmeister. 6:6 stand es nach zwölf Partien gegen Karjakin. Das folgende Schnellschach-Match gewann er 3:1 – und damit den Weltmeistertitel. Zwei Jahre später gegen Fabiano Caruana endeten alle zwölf klassischen Partien remis. Wieder 6:6. Im Schnellschach-Tiebreak gewann Carlsen die ersten drei Partien – und damit den Weltmeistertitel.

Schon 2018 nach seinem WM-Sieg über Fabiano Caruana sagte Magnus Carlsen, dass er den WM-Modus für dringend reformbedürftig hält – und haderte, ob er nochmal antreten soll. Tatsächlich hielten viele Fachleute vor dem 2021er-Match gegen Ian Nepomniachtchi eine Überraschung für möglich – was ganz wesentlich damit zusammenhing, dass auch Nepomniachtchi als Spezialist für die schnellen Disziplinen des Schachs gilt.

Nachdem er zweimal den höchsten Titel im Schnellschach-Stechen gewonnen hatte, erklärte Magnus Carlsen schon 2018, er halte das Format der WM-Matches für nicht mehr zeitgemäß. Schon nach seinem Sieg 2018 ließ der Norweger offen, ob er noch einmal antritt, und er stellte eine Frage in den Raum, die zu beantworten sich bis heute niemand Offizielles getraut hat:

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Worum geht es eigentlich bei der Schach-Weltmeisterschaft?

Soll in diesen Matches wirklich der beste Spieler im klassischen Schach gekürt werden? Wohl kaum, wenn doch am Ende die Qualität im Schnellschach entscheidet.

Und nicht nur am Ende: Dem besseren Schnellschach-Spieler der beiden WM-Finalisten bietet sich die Option, das Match möglichst solide anzulegen, es unentschieden zu gestalten, um im Stechen dank seiner spezifischen Qualität den Titel zu holen – ein gewichtiger Vorteil, der Carlsen 2018 zum Weltmeister gemacht hat. Der schlechtere Schnellschach-Spieler der beiden steht dagegen von Beginn an unter Zugzwang. Er muss zunehmend Risiko nehmen, um ein Stechen zu vermeiden – ein Nachteil. 2018 entschied Caruana am Ende der klassischen Partien, sich seinem Schicksal zu ergeben, anstatt All-in zu gehen. Mit dem bekannten Ergebnis.

Um was gekämpft wurde, als 1972 Boris Spassky (l.) und Bobby Fischer um die Krone spielten, war klar: Gesucht wurde der beste Spieler im klassischen Schach. Damals ging das noch. | Foto: Isländischer Schachverband

In den 1970ern stellte sich die von Magnus Carlsen 2018 aufgeworfene Frage nicht. Gesucht wurde eindeutig der beste Spieler im klassischen Schach. Weltmeister wurde derjenige, der im WM-Match von unbestimmter Länge zuerst sechs Partien gewinnt.

Die Endlichkeit des Systems offenbarte sich erstmals, als 1984/85 Anatoli Karpow und Garri Kasparow keinen Sieger fanden. 1985 mussten sie nochmal ran. Um ein neues Endlos-Match zu vermeiden, holte die FIDE den Titelverteidigerbonus aus der Mottenkiste: Gespielt wurden 24 Partien, und im Fall eines Unentschiedens wäre Karpow Weltmeister geblieben. | Foto: Owen Williams CC BY-SA 3.0

Damals ging das noch. Die Remisquote im Spitzenschach war nicht so hoch wie heute, eine fixe Matchdauer inklusive Stechen nicht notwendig, und einen Spielsaal auf unbestimmte Zeit zu mieten, war einfacher. Die Endlichkeit dieses Systems offenbarte sich 1984/85, als Garri Kasparow und Anatoli Karpow nach einem halben Jahr und 48 Partien immer noch keinen Sieger gefunden hatten.

Nach seinem 7:7 im WM-Match gegen Peter Leko 2004 in der Schweiz konnte Vladimir Kramnik schwerlich behaupten, der Beste im klassischen Schach zu sein. Er hatte Leko schließlich nicht besiegt. Weltmeister blieb Kramnik nur dank des Titelverteidigerbonus im Reglement. Festgeschrieben war zum letzten Mal, dass im Fall eines Unentschiedens der Weltmeister den Titel behält.

Gratulation: Die beiden Herren rechts sind nicht mehr im WM-Geschäft. Die Untaten des Herrn links überschatten die Schach-WM 2023. | Foto via kremlin.ru

Nach seinem 6:6 im WM-Match gegen Wesselin Topalow zwei Jahre später konnte Kramnik wieder nicht behaupten, der Beste im klassischen Schach zu sein. Aber die FIDE hatte das Reglement geändert. Erstmals entschied ein Schnellschach-Stechen die Weltmeisterschaft, was seitdem keine Ausnahme ist. Viswanathan Anand triumphierte 2012 im Tiebreak gegen Boris Gelfand dank seiner Schnellschach-Qualitäten, ebenso wie Magnus Carlsen 2016 und 2018.

Anno 2023 sind im Schach vier Weltmeistertitel zu vergeben: Weltmeister im Schnellschach, Weltmeister im Blitzschach, Weltmeister im Schach960 und Weltmeister im – ja, im was eigentlich? Ausgerechnet beim größten und prestigeträchtigsten seiner Titel drückt sich der Weltverband davor, ihn zu definieren, obwohl es schon seit mindestens 17 Jahren nicht mehr um die Weltmeisterschaft im klassischen Schach geht.

Ob sich die Suppe von allein salzt?

Magnus Carlsen hat 2018 vorgeschlagen, wie sich der überlebte WM-Modus ins 21. Jahrhundert überführen ließe: Er sehe den großen Titel als „Weltmeister aller Klassen“: “Wenn der Weltmeister der beste Schachspieler der Welt sein soll, dann sollte der Titel alle Schachformate umfassen”, sagte Carlsen – eine Vorlage, auf deren Basis sich der WM-Modus leicht reformieren ließe.

Es müssen ja gar nicht 14 klassische Partien gespielt werden. Die 14 Match-Tage ließen sich anders, aufregender füllen. Zum Beispiel so: sechs Partien klassisches Schach, zwei Partien klassisches Schach960, vier Sätzen à vier Partien Schnellschach, zwei Sätze à acht Partien Blitzschach. Fertig wäre ein zukunftsfähiges WM-Match, an dessen Ende der Weltmeister aller Klassen gefunden ist. So könnte es die nächsten 150 Jahre funktionieren.

Wie Hikaru Nakamura im Finale der 960-WM Ian Nepomniachtchi besiegte.

Wie es jetzt ist, wird es nicht mehr lange funktionieren. Nicht einmal die Chefs der Weltschachverwaltung bestreiten den Reformbedarf. Nur hat die Einsicht, dass es so nicht geht, keinerlei Handlungen ausgelöst. Weil sich niemand ans Format herantraut, beginnt am Ostersonntag in Kasachstan ein WM-Match, das in demselben Modus ausgespielt wird wie das von 2021. Beobachter wie Verantwortliche müssen jetzt hoffen, dass sich die Kontrahenten nicht über zwölf ebenso öde wie hochklassige Remispartien neutralisieren, dass sich die Suppe irgendwie von allein salzt.

Die Schach-WM 2023 zwischen Ian Nepomniachtchi und Ding Liren wird in Abwesenheit des besten, bekanntesten Schachspielers der Welt weniger öffentliche Aufmerksamkeit erregen als vergangene Matches. Sie ist viel mehr eine Zwischen-WM als eine Zeitenwende, viel mehr ein Intermezzo als der potenzielle Beginn der Ära nach Magnus Carlsen.

Als letztes oder vorletztes WM-Match, bevor die neue Generation übernimmt, wäre die WM 2023 bestens geeignet, Reformen des Modus auf Tauglichkeit zu testen. Diese Chance hat die FIDE verpasst.

Schachweltmeister 2023? Ding Liren, Nummer drei der Welt. | Foto: Stev Bonhage/FIDE
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Thomas H
Thomas H
1 Jahr zuvor

Wesentlich öder als die WM matches sind die endlosen, immer gleichen Turniere, die man sich seit Monaten ansehen darf. Mit Schach haben Online- Turniere wie der Chessable Cup wenig zu tun, und niemand versteht mehr, ob Nakamura in der entscheidende Armageddon-Partie nun in der Losers-Division oder im Replay der Winners-Division-2 seinen Gegner beschummelt hat. Dadurch, noch Chess-960, Würfeln und Seilhüpfen hinzuzufügen wird es auch nicht spannender. Leider versagt die FIDE hier seit Jahren, eine vernünftige Schachturnierserie im klassischen Schach aufzubauen, wo nicht nur die Top-10 untereinander spielen, sondern wo sich auch andere qualifizieren können und die Spitzenleute dann gezwungen sind,… Weiterlesen »

Thomas Richter
Thomas Richter
1 Jahr zuvor

Im Fußball fällt die Entscheidung – wenn man zwingend einen Sieger braucht – manchmal im Elfmeterschießen. Das gibt es nicht als eigene Disziplin, nur ggf. in den Spielverlauf zuvor integriert – wie Zeitnotphasen im Schach mit klassischer Bedenkzeit. Im Marathon fällt die Entscheidung auch mal im Zielsprint, wenn zwei oder mehr zuvor über 42km gleichwertig waren. Sprint ist eine eigene Disziplin, kein Marathonläufer ist ein guter Sprinter sondern nur “Einäugiger unter Blinden”. In der Leichtathletik gibt es zwar Zehnkampf und es wird manchmal als “Königsdisziplin” bezeichnet, aber es ist etwas für wenige “spezialisierte Generalisten”. Im Schach spielen zwar viele alle… Weiterlesen »

Matthias
Matthias
1 Jahr zuvor

Garry Kasparov hat in den 5 Weltmeisterschaften zwischen ihm und Anatoly Karpov insgesamt nur 2 Partien mehr für sich entschieden. Wer erinnert sich noch an die legendäre 24. Partie des WM Kampfes 1987, als Kasparov gewinnen musste, und gewann, um ein 12:12 zu erreichen, und Weltmeister zu bleiben?! Da wurde auch nicht über einen Schnellschach Tiebreak nachgedacht. Im 20. Jahrhundert gab es einfach einen Schachweltmeister. Keinen Blitz, oder Schnellschachweltmeister. Die WM Kämpfe den Wünschen des jeweils stärksten Spielers anzupassen erschließt sich mir nicht. Und das Gedaddel im Internet hat den Zweck Geld zu verdienen, aber nicht gutes Schach zu spielen.… Weiterlesen »

Last edited 1 Jahr zuvor by Matthias
Peter Schneider
Peter Schneider
1 Jahr zuvor

Weder Schnellschach, noch Fischer Random, noch gar Blitzschach sollten bei einer Schach-WM eine Rolle spielen. Ich wäre für eine Rückkehr zum Modus von 1972, inkl. Hängepartien und 12:12 Bonus für den Titelverteidiger. Der Herausforderer sollte beweisen müssen, daß er *besser* ist als der amtierende Weltmeister, nur dann wäre der Titel verdient.

acepoint
1 Jahr zuvor

Selten habe ich einer Schach-WM so wenig entgegengefiebert, wie dieser. Erinnert mich auch sehr an die Fussball-WM in Katar. Unsägliche FIDE, zweifelhafte Sponsoren, Nepo, der zwar damals den offenen Brief gegen den russischen Überfall in der Ukraine mitunterzeichnet, sich danach aber anscheinend komplett rausgehalten hat. Und Ding Liren, der sich etwas «dubios» auf den letzten Drücker für das Kandidatenturnier qualifiziert hat. Was wäre das möglicherweise für eine Show geworden, hätte Nakamura nicht in der letzten Runde gepatzt. Aber jetzt? Früher habe ich bei einer Übertragung meinen Tagesablauf so gut es ging an Kandidatenturnier und WMs angepasst, gestern habe ich überrascht… Weiterlesen »

Last edited 1 Jahr zuvor by acepoint
Ludger Keitlinghaus
Ludger Keitlinghaus
1 Jahr zuvor

‘Soll in diesen Matches wirklich der beste Spieler im klassischen Schach gekürt werden? Wohl kaum, wenn doch am Ende die Qualität im Schnellschach entscheidet.’ + ‘Als letztes oder vorletztes WM-Match, bevor die neue Generation übernimmt, wäre die WM 2023 bestens geeignet, Reformen des Modus auf Tauglichkeit zu testen. Diese Chance hat die FIDE verpasst.’ [Quelle : jeweils Artikeltext] — Ich bin schachlich old-school, sozusagen, vergleiche : -> https://www.urbandictionary.com/define.php?term=old+school (dies das sog. Urban Dictionary zitierend, dann womöglich nicht umfänglich sozusagen old school) — Mag es, wenn die womöglich Besten der Besten der Besten den Schachweltmeistertitel erringen, erhalten oder zumindest (zu) verteidigen… Weiterlesen »

Phil
Phil
1 Jahr zuvor

Ein Schachmeister aller Klassen (also aller Spielstile) wäre wünschenswert, kein Widerwort hier. Aber es stellt sich dann die Frage, wie es zur Kandidatenfindung kommt. Was wäre denn ein vernünftiger, transparenter, fairer und spannender Modus für diese Auswahletnscheidung?

Markus Schirmbeck
1 Jahr zuvor

Ein Weg wäre es auch beides zu machen: Ein Weltmeister im klassischen Schach, der dann im traditionellen Format ausgespielt wird, z.B. wer als 1. 5 Gewinnpartien hat gewinnt, egal wie lange das dann dauert.
Zusätzlich könnte man den Weltmeister aller Klassen einführen, der in einer Kombination aller Spielarten ermittelt wird. Dieser wäre dann für mich der “Nachfolger” der alten Weltmeister, andere mögen in diesem Szenario den Weltmeister im klassischen Schach als den eigentlichen Schachweltmeister sehen. So hätte jeder seine Tradition gewahrt und der Modus wäre im 20. Jahrhundert angekommen.

Philipp
Philipp
1 Jahr zuvor

Warum nicht wie im Computerschach bestimmte Eröffnungen vorgeben? Jeweils eine Partie mit Weiß und eine mit Schwarz. Dann spielt auch die Vorbereitung nicht mehr eine so große Rolle, sondern es kommt darauf an, die Stellung besser zu verstehen. Dann könnten wir auch wieder mal das Königsgambit in einem WM-Match sehen. Eventuell die Farbverteilung nach jeder Eröffnung noch wechseln.