Vincent Keymers Rückschau auf Prag: “Einiges liegengelassen”

Das Turnier mit einer Leistung von über 2750 Elo gewonnen – schlecht kann Vincent Keymers Schach in Prag nicht gewesen sein, nicht einmal nach gehobenen Großmeistermaßstäben. Aber in der Nachbetrachtung findet Keymer doch das eine oder andere, das noch besser hätte laufen können. Was das war, offenbarte der 17-Jährige jetzt im deutschsprachigen Stream von chess.com zum Kandidatenturnier:

Ein „generelles, kleines Problem“ sieht Keymer darin, „dass ich einige Strukturen bekommen habe, die ich nicht so gut kenne“.

Darin fühle er sich nicht so wohl und brauche mehr Zeit als sonst – ein Problem insbesondere, „wenn man gewinnen will“. Reiche ein Remis, sei das Spielen einer nicht vertrauten Struktur weniger problematisch.

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Das Strukturproblem wurde speziell in der Partie gegen den Mitfavoriten und späteren Drittplatzierten Nodirbek Abdusattorov deutlich:

Mit allem, was nach 1.e4 e5 passiert, ist Vincent Keymer noch nicht allzu vertraut. Aber das wird sich nur ändern, wenn er gegen starke Gegner 1…e5 aufs Brett stellt. Und so ergab sich gegen Nodirbek Abdusattorov ein für Schwarz “sehr, sehr unagenehmes” Italienisch.

„Das war knapp. Nach der Eröffnung sei es sehr, sehr unangenehm gewesen“, gestand Keymer zur Partie gegen den Schellschach-Weltmeister ein. „Aber irgendwie habe ich überlebt.“

Zum generellen kam ein konkretes Problem, das sich gleich mehrere Male offenbarte. „Ich habe einiges liegengelassen“, hadert Keymer in der Rückschau. Unter anderem nannte er die Partie gegen den Mitfavoriten und späteren Zweitplatzierten Hans Moke Niemann:

Aus der Abteilung “liegen gelassen”: Der Mehrbauer hätte reichen können. Hat er aber nicht.

„Das Turmendspiel ist total gewonnen.“ Am Punkt angelangt, an dem es galt, die Gewinnfortsetzung zu finden, „habe ich die richtige Idee sogar gesehen“. Aber zu schnell die richtigen Züge in der falschen Reihenfolge ausgeführt. „Ich konnte kaum glauben, dass es dann remis ist, so schlecht sieht das für ihn aus. Aber er hat das sehr gut verteidigt.“

Das Phänomen des vergeblichen Gewinnenwollens trat speziell in den beiden Weißpartien gegen die 2500+-Großmeister Marcin Krzyzanowski und Jiri Stocek auf:

“Nicht zu knacken” stimmt nicht ganz. Einen Knackpunkt gab es in der Weißpartie gegen Marcin Krzyzanowski.
Und der Igel, der hat Stacheln… Keymer vs. Stocek, auch hier ein halber Punkt, mit dem Keymer trotz des stark aufspielenden Gegners nicht ganz zufrieden war.

„Ich hatte beide Male Plus-eins-Stellungen und habe dann nicht den richtigen Zug gespielt“, sagt Keymer. „Daraus sollte man gegen Spieler mit fast 150 Elo weniger mehr machen.“ Allerdings: „Beide haben sehr gut gespielt.“

Und dann war da noch die Beinahe-Katastrophe gegen den Slowaken Jergus Pechac. „Hätte ich verlieren müssen, habe aber wie durch ein Weltwunder überlebt“:

Beinahe hätte Jergus Pechac gegen Vincent Keymer seine Unsterbliche gespielt. Aber als er sie mit 32.Sd7 krönen wollte, stellte sich heraus, dass sich der Deutsche retten kann.

In der Eröffnung sah sich Keymer anhaltenden Drucks mehr noch auf der Uhr als auf dem Brett ausgesetzt. Bis ins Mittelspiel blitzte Pechac seine Vorbereitung herunter. „Dann sitzt du da, der Gegner blitzt auf 3700-Elo-Level, und du merkst, dagegen komme ich nicht an. Und du fragst dich, warum habe ich ausgerechnet dieses gespielt und nicht irgendetwas anderes, egal was.“

Am forcierten Schluss der Partie, Keymer hatte um den 30. Zug schon nicht viel mehr als eine Minute auf der Uhr, „hat er mich quasi gezwungen, einzige Züge zu finden“. Und Pechac habe zurecht angenommen, die Partie sei quasi vorbei. Dann der 32. Zug: Sd7, der glänzende, vermeintliche Gewinnzug auf ein dreifach überdecktes Feld – der aber im Gegensatz zu allen anderen Springerzügen nicht gewann.

“Zu schön, um ihn nicht zu spielen”: Aber die Stellung birgt eine Rettung für Schwarz. Nach 32…Sxd5! hat Weiß nicht mehr als Dauerschach.

Keymer fühlt mit seinem Gegner und dessen bis zu dieser Stelle brillantem Vortrag: „Der Zug war einfach zu schön, um ihn nicht zu spielen. Ein Riesenpech für ihn.“

(Titelfoto: Peter Vrabec/Prager Schachfestival)

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Oliver Calm
Oliver Calm
1 Jahr zuvor

Unfassbar sympathisches Interview! Wie oft er herausstellt, wie gut die Gegner gespielt hätten und seine Selbstkritik machen ihn für mich jetzt schon zu einem Großen!

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