Claus Seyfried (1955-2022)

Dramatischen Mitgliederschwund beklagt nicht nur der Schachverband Württemberg. An Claus Seyfried liegt das nicht, im Gegenteil. Während anderswo die Schachspieler nach der Pandemie wegblieben, flogen sie den von ihm geführten Stuttgarter Schachfreunden zu. Unter Seyfried mauserte sich der bald 150 Jahre alte Traditionsverein zu einem Muster dafür, dass die Krise eine Riesenchance fürs Schach birgt. Wir müssen sie nur nutzen. Claus Seyfried und sein Verein haben gezeigt, wie das geht.

Die Stuttgarter Schachfreunde und der Württembergische Schachverband müssen jetzt ohne einen ihrer tatkräftigsten Mitstreiter auskommen. Claus Seyfried ist tot, gestorben am 2. Juni 2022. „Er hinterlässt eine riesengroße Lücke“, heißt es auf der Website seines Vereins. Viel mehr steht dort noch nicht.

Claus Seyfried (1955-2022). | Foto: privat via Stuttgarter Nachrichten

Wie auch? Es war ja in erster Linie der Vorsitzende höchstselbst, der stets dafür sorgte, dass die Seite seines Vereins das Stuttgarter Schachgeschehen aktuell dokumentiert – eine von zahlreichen Baustellen des Württemberger Schachs, die Claus Seyfried unermüdlich beackert hat.

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Eine riesengroße Lücke hinterlässt Claus auch am Bodensee. An die 100 Kommentare hat er im Lauf der vergangenen vier Jahre unter den Beiträgen auf dieser Seite geschrieben, stets fundiert, prägnant und pointiert, oft überraschend. Claus Seyfrieds Einlassungen und Haltungen zu den vielen Themen des deutschen Schachs waren immer bedenkenswert und nie vorhersehbar.

Gelegentlich setzte es aus Stuttgart eine verbale Watschn für die Perlen, die der Schreiber dieser Zeilen nicht hatte kommen sehen. Und manchmal entpuppte sich Claus als unerwarteter Alliierter in Angelegenheiten, in denen ich ihn eher als Gegenspieler verortet hätte.

Ein Autor dieser Seite konnte sicher sein, von Claus ausschließlich gepriesen zu werden. Sobald Martin Hahn eine neue schwäbisch geprägte Historie präsentierte, meldete sich der Stuttgarter Schach-Chef lobend zu Wort, zuletzt am 25. April 2022 um 0.59 Uhr zu einem Beitrag über die Stuttgarter Schach-Brüder und Tal-Besieger Schmid. „Irgendwann, irgendwann“ werde er diesen Beitrag für seine Vereinsseite übernehmen, schrieb Claus. Dazu wird es nicht mehr kommen.

Claus bildete sich seine Urteile unabhängig, frei von Schemen, Fetischen (dieses Wort an dieser Stelle fände er nicht angemessen und würde das in der Kommentarspalte kundtun) und vorgefertigten Meinungen. Und wenn an dieser Stelle einmal mehr über die schwer erträglich langsam mahlenden Mühlen einer in vergangenen Jahrzehnten verhafteten „Schachverwaltung“ hergezogen wurde, einer Verwaltung, deren Teil er war, dann nahm er das nicht krumm: „Ach, der Bodensee wieder.“

Kontroversen haben wir einige ausgetragen, darunter eine heftige. Claus vermittelte nie den Eindruck, dass darüber ein Tischtuch zerschnitten sein, ein Band reißen könnte. Über dem Klein-Klein des Tagesgeschehens stand stets der große gemeinsame Nenner. Und die beiderseitige Neugierde, ob sich eingefahrene Dinge nicht ganz anders, besser machen lassen.

Seine Neugierde ging weit über den Tellerrand der 64 Felder hinaus. Seine Homepage, die er eigentlich wegen DSGVO abgeschaltet hat, aber doch nicht so richtig, zeugt von seiner Reiselust. Claus Seyfried hat die Welt bereist, Eindrücke gesammelt und sie auf seiner Internetseite geteilt. Bemerkenswert: Schach findet dort kaum statt, auch das ein Zeugnis vom Horizont des Stuttgarter Weltenbummlers.

Das größte Kompliment, das Claus in (Schach-)Gesprächen zu vergeben hatte, war ein Zögern, begleitet von hochgezogenen Augenbrauen, gefolgt von einer Frage. Daran erkannten Gesprächspartner, dass es ihnen gelungen war, den scharfen Verstand des Mathematikers, Ingenieurs und Schachmeisters zu stimulieren. Claus erfreute sich an neuen Perspektiven, an Gelegenheiten, Dinge auf Substanz abzuklopfen.

Ende 2018: Claus Seyfried (2.v.l.) beim DSB-Workshop Öffentlichkeitsarbeit. Rechts daneben: der Schreiber dieser Zeilen.

Kennengelernt haben wir uns Ende 2018. Der gemeinsame Wunsch, dem Schachbund zu helfen, das öffentliche Erscheinungsbild unseres Sports ins 21. Jahrhundert zu überführen, brachte uns beim DSB-Workshop „Öffentlichkeitsarbeit“ zusammen. Zufällig saßen wir zweieinhalb Tage lang nebeneinander, und eine Gemeinsamkeit (neben dem Faible für Publizistisches) war schnell gefunden: der Wiedereinstieg nach jahrzehntelanger Schachpause, aber diesmal nicht nur als Spieler. (Was den Verbands- und Vereinsfunktionär Claus Seyfried nicht davon abhielt, 2012 Zweiter bei der Württembergischen Meisterschaft zu werden und 2019 als spielender Kapitän seiner Stuttgarter das Württembergische Meisterbrett zu gewinnen.)

Claus Seyfried von hinten, aufgenommen beim DSB-Workshop. | Foto: Perlen vom Bodensee

In den Wochen danach stellten wir fest, dass unsere Hilfe gar nicht erwünscht gewesen war – mit den bekannten Folgen. Claus hat seinen Frust über die verschwendeten 72 Stunden Lebenszeit mehrfach deutlich formuliert, auch öffentlich, aber sich nicht lange damit aufgehalten. Stattdessen, ein Glücksfall für das Schach in Stuttgart und Württemberg, hat er sich auf seiner lokalen und regionalen Schachinsel in die Arbeit gestürzt.

Der Newsletter des Schachverbands Württemberg trug bis zuletzt in allererster Linie seine Handschrift. Monat für Monat erschien dieses Werk, das Monat für Monat eine Qualität des Öffentlichkeitsarbeiters Seyfried dokumentierte, die im deutschen Schach kaum jemandem gegeben ist: die Gabe, Geschichten und Aufhänger zu sehen, der Sinn fürs Storytelling.

Einer von vielen Perlen-Beiträgen, die auf Anregungen aus dem Newsletter Württemberg basieren.

Die letzten Seiten seines eigentlich regionalen Newsletters, auf denen Claus Erzählenswertes aus dem deutschen Schach und der Schachwelt zusammentrug, hätten auch als erste Seiten eines deutschen Schachmagazins getaugt. Am Bodensee war es Monat für Monat Pflichtprogramm, den Newsletter Württemberg direkt nach seinem Erscheinen von hinten nach vorne durchzuschauen. Manche in Württemberg von Claus ausgegrabene und erzählte Episode ist hier zu einem Beitrag geworden.  

Wer den Twitter-Account der Stuttgarter Schachfreunde betreut hat? Claus Seyfried.

Zuletzt gesehen haben wir uns im vergangenen Jahr bei der DSJ-Akademie. Claus interessierte sich dafür, welche Social-Media-Kanäle Vereine für ihre Zwecke nutzen sollten, wie sich mit spezifischen Inhalten Reichweite, Engagement und Identifikation erzeugen lassen. Zufällig war ich derjenige, der zu diesem für Schachverhältnisse sehr modernen Thema referierte und Übungen anbot, um den Komplex zumindest anzureißen und ein paar Anregungen zu geben. Claus saß ganz vorne, er war der Älteste im Raum. Und, meinem Eindruck nach, der Neugierigste.

Ob Claus‘ Tage länger waren als die 24 Stunden, die anderen Leuten gegeben sind? Ungeachtet seines Engagements im Verband war er für seine Stuttgarter Schachfreunde weit mehr als ein Vorsitzender, der sich nur am Amt erfreut. Claus war Webmaster, Mannschaftsbetreuer – und wichtiger Baustein der Jugendabteilung, die wie der Gesamtverein zuletzt prächtig gediehen ist.

Claus plante, sich noch mehr als bisher um seine Jugend zu kümmern – sobald seine gesundheitlichen Probleme überwunden sind. Das war ihm nicht mehr vergönnt.

Du wirst fehlen, Claus. Mach’s gut.

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Christoph Thurner
Christoph Thurner
1 Jahr zuvor

Das tut mir jetzt persoenlich sehr weh! Als Background: Nach dem Tod meines Vaters, der mehr als 60 Jahre Mitglied bei den SSF war, veroeffentlichte Claus einen schoenen Nachruf in dem er auch schrieb dass ich vielleicht einmal als stolzer Vater meine Tochter zu einer U10 WM begleiten wuerde. Ohne diesen Nachruf waere ich NIE auf die Idee gekommen Anya fuer die Kadetten WM 2017 vorzuschlagen, sie wurde ausgewaehlt und wir haben seitdem SSF 07 T-Shirts auf 3 WM’s spazieren getragen. Anya wird in Chennai Neuseeland am Reservebrett der Frauen”frauschaft” vertreten, Claus hatte uns dazu auf Facebook am 29 Mai… Weiterlesen »

Walter Rädler
Walter Rädler
1 Jahr zuvor

Das ist sehr traurig, er war ein toller Mensch, sehr fleißig und ein riesiges Herz für das Schach. Ein großer Verlust in vielerlei Hinsicht. Nicht nur seine Württemberg-Zeitung setzte Maßstäbe.

Thomas Richter
Thomas Richter
1 Jahr zuvor

Auch von mir herzliches Beileid, zur “Familie” gehören sicher auch die Stuttgarter Schachfreunde. Ich bin Claus Seyfried nie persönlich begegnet und hatte nur gelegentlichen Mailkontakt, aber auch mein Eindruck: er wird fehlen, nicht nur seinem Verein.

Peter Kalkowski
Peter Kalkowski
1 Jahr zuvor

Persönlichkeiten wie Claus Seyfried reißen eine große Lücke wenn sie plötzlich nicht mehr da sind.
Meinen Beileid auch an der Familie.

acepoint
1 Jahr zuvor

Frage am Rande in die Runde: die in einem Tweet zitierte Studie zum Mitgliederschwund sollte im März in einem Newsletter des württembergischen Schachverband veröffentlicht werden. Kann mir jemand diese Studie zukommen lassen?

trackback

[…] Claus Seyfried (1955-2022) […]

trackback

[…] Seyfried hat das Schachspiel im Alter von 15 Jahren erlernt und war einige Jahre mit den Jugend- und Erwachsenenteams des TSV Schott Mainz erfolgreich, bis er im Alter von 21 mit dem Schach komplett aufgehört hatte. Nach einer Pause von 33 Jahren kam es zu einer erneuten Infektion mit dem Schachvirus. Seit 2013 engagiert er sich auch ehrenamtlich bei seinem Verein Stuttgarter Schachfreunde 1879, wo er seit 2009 wieder Mitglied ist, und beim Schachverband Württemberg (SVW). Bis zu seinem Tod war er Vorsitzender der Stuttgarter Schachfreunde. Im SVW war er Öffentlichkeitsreferent. Er starb nach einer Herz-OP. [Nachrufe: Stuttgarter Schachfreunde… Weiterlesen »