Nach vier von elf Runden hat die Europameisterschaft in Slowenien zum ersten Mal einen alleinigen Tabellenführer – die Nummer 133 der Setzliste. Nach seinem Sieg über Rasmus Svane, dem vierten in Folge, liegt der isländische GM Gudmundur “Gummi” Kjartansson (Elo 2450) mit 4/4 allein in Front. 13 Spieler mit 3,5 Punkten sind ihm auf den Fersen, darunter Matthias Blübaum.
Mehr als 300 Spieler und Spielerinnen, darunter dutzende Großmeister, streiten in Terme Catez um 100.000 Euro Preisgeld, Elopunkte, Titelnormen und nicht zuletzt 20 Plätze für den World Cup 2023. Allein 28 Spieler und Spielerinnen aus Deutschland sind am Start, darunter (bis auf Vincent Keymer) der komplette A-Kader der Männer sowie zahlreiche Talente. Die Runden beginnen täglich um 15 Uhr, die Liveübertragung erfolgt zeitversetzt um eine Viertelstunde.
Livepartien, Paarungen, Tabelle (chess.com)
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Die größte Delegation stammt aus der Ukraine, nachdem die ukrainische Regierung das Reiseverbot für Profis aufgehoben hat: 35 Spieler:innen, fünf Trainer. Anton Korobov aus Charkiv, Kirill Shevchenko aus Kyiv und Andrei Volokitin aus Lviv, die für die Bundesligisten Viernheim, Bremen bzw. Düsseldorf spielen, gehören zum Favoritenkreis.
Der Europäische und der Slowenische Verband hätten die Teilnahme der Ukrainer signifikant unterstützt, erklärte auf eine Anfrage der Deutschen Presse-Agentur Theodoros Tsorbatzoglou, ECU-Generalsekretär. Gebühren für Teilnahme, Registrierung und Transport seien den Ukrainern erlassen worden. Außerdem seien eine Reihe Ukrainer auf Kosten der Verbände im Hotel untergebracht. Allein die Verbände seinen mit knapp 20.000 Dollar eingesprungen, dazu komme Hilfe von externen Unterstützern.
Bis zum 3. März waren rund 30 Russen und Russinnen registriert, außerdem einige Weißrussen. Dann entschied die ECU, ihre Verbände aus dem Spielbetrieb zuschließen. Der weißrussische Verband hat dagegen laut Tsorbatzoglou offiziell Protest eingelegt.
An die Spieler und Spielerinnen erging das Angebot, zu einem anderen Verband zu wechseln oder ihre Verbandszugehörigkeit aufzugeben. Die große Mehrheit zog ihre Anmeldungen zurück, darunter alle Weißrussen. Fünf Russen und Russinnen spielen jetzt unter FIDE-Flagge, darunter einige, die ohnehin nicht mehr in Russland leben. Darunter auch WGM Dinara Dordzhieva, die laut dpa mit dem deutschen Großmeister Dennis Wagner verheiratet ist.
Die meisten ukrainischen Spitzenspieler haben angekündigt, dass sie nicht gegen Russen antreten werden. Die ECU berücksichtigt diese Haltung: Sollten sich Paarungen Ukraine vs. Russland ergeben, werde neu gelost, erklärt Tsorbatzoglou.
Traditionell fehlt bei der EM die europäische Spitzenklasse aus der Region Elo 2700 plus. Diese Elitespieler sind per Elo ohnehin für den World Cup qualifiziert. Für die in Slowenien am Brett kämpfenden Großmeister ist es für eine sportliche Prognose zu früh, aber eine Rechnung lässt sich schon anstellen: “plus vier” bzw. 7,5/11 werden mit höchster Wahrscheinlichkeit für die World-Cup-Qualifikation reichen, “plus drei” bzw. 7/11 allenfalls in Verbindung mit einer sehr guten Buchholz-Wertung. Relevant ist diese Rechnung vor allem für diejenigen deutschen Kaderspieler, die noch nicht qualifiziert sind: Alexander Donchenko, Dmitrij Kollars, Liviu Dieter Nisipeanu.
“Go, Gummi!”
Im Lauf der vierten Runde sah es lange aus, als könne sich Rasmus Svane mit dem vierten Sieg in Folge an die Spitze des Feldes setzen. Bis ins Endspiel hinein verwaltete Svane einen stabilen Vorteil und drückte auf den vollen Punkt. Aber der dreifache isländische Meister hielt stand. In beiderseitiger Zeitnot dann dieses:
Trotz Mehrbauer ist der schwarze Vorteil dahin. Svane müsste auf Verteidigung umschalten und sich zuvorderst darum kümmern, dass er den weißen Freibauern stoppt. Und das geht nur per …Th3-h6-a6. Stattdessen zog Svane 38…h5?, was dem schwarzen Turm einen schnellen Schwenk auf den Damenflügel verbaut. Mit einem Mal war die Stellung für Weiß gewonnen.
Sieben Züge später war das Drama vorbei:
Gudmundur Kjartansson machte weniger die eigene gute Leistung für diesen vierten vollen Punkt verantwortlich: “Rasmus ist ein sehr starker Spieler, sehr ambitioniert. Er wollte unbedingt gewinnen, hat überzogen, und das führte zum entscheidenden Fehler in Zeitnot”, erklärte der Isländer.
Sein Verbandspräsident Gunnar Björnsson feierte den isländischen Spitzenreiter derweil auf Twitter: “Go, Gummi!”:
Von den Deutschen liegt nun Matthias Blübaum mit 3,5/4 am besten im Rennen, eine Momentaufnahme. Noch ist alles möglich, das gilt auch für die Schachfreunde Donchenko und Wagner, die mit 2,5/4 erst noch in Schwung kommen müssen.
Am wenigsten begeistert von der Auslosung der fünften Runde wird Matthias Blübaum gewesen sein: “Bitte nicht der schon wieder!”
Velimir Ivic, größtes serbisches Schachtalent, hat sich im zweiten Halbjahr 2021 zu einer Art Angstgegner Blübaums entwickelt. Heute am dritten EM-Brett führt Blübaum die weißen Steine, eine schöne Gelegenheit, im neuen Jahr den Trend umzukehren – und bei der Europameisterschaft weiter ganz vorne mitzuspielen.
Die Paarungen der fünften Runde (via chess-results):
15 Uhr geht’s los:
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(Titelfoto: Anton Korobov, fotografiert von Rafal Oleksiewicz/FIDE)