Rückzug aus der Lichess-Bundesliga: “Wollen nicht weitermachen, als wäre nichts geschehen”

Die Schachvereinigung Offenburg zieht sich als erste deutsche Vereinsmannschaft aus der Lichess-Bundesliga zurück. In einem offenen Brief, siehe auch am Ende dieses Texts, fordert der Vorstand des baden-württembergischen Vereins 119 weitere deutschsprachige Teams der Liga auf, dasselbe zu tun. “Ein Schachverein hat nicht viele Möglichkeiten, die Politik der Schachverbände zu beeinflussen. Unsere Mittel sind bescheiden. Wir wollen aber nicht einfach weitermachen, als wäre nichts geschehen.”

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine halten die Offenburger die fortgesetzte Beteiligung russischer Mannschaften an der Lichess-Bundesliga für falsch. “Gerade im Schach gäbe es die Möglichkeit, in Russland Wirkung zu erzielen. Dort spielen mehrere Millionen Menschen organisiert Schach”, teilen die Offenburger mit, die ihren Rückzug aus der Liga als “Verlust” empfinden.

“Für die meisten unserer Mitglieder war dies die einzige Möglichkeit, einmal gegen einen GM oder IM zu spielen. Aber, es ist nur eine winzig kleine Entbehrung gegenüber dem Leid und den Qualen, die alle Ukrainer seit 20 Tagen ertragen müssen!”

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Hansjörg Drewello. | Foto via Hochschule Kehl

Die Offenburger fordern den Deutschen Schachbund, die FIDE und alle Organisatoren internationaler Turniere auf, die vom Internationalen Olympischen Komitee formulierte Empfehlung an den Sport (Ausschluss aller Russen und Weißrussen) umzusetzen. Ausgerechnet im Schach ließen die Verbände Russen und Weißrussen weiter spielen, während ukrainische Schachspieler “mit der Waffe in der Hand” ihr Land verteidigen.

Initiator des offenen Briefes ist der Ökonom Hansjörg Drewello, Professor an der Hochschule Kehl und 2. Vorsitzender des Vereins. Während der laufenden Liga am 14. März hatte Drewello dieses in den Chat geschrieben…

…und war zu seinem Erstaunen von Lichess für eine Weile gesperrt bzw. stummgeschaltet worden. Ohne weitere Erläuterung teilte die Seite Drewello auf dessen Nachfrage hin mit, seine Aufforderung passe nicht zum Statement, das Lichess zum Krieg abgegeben hat. Drewello erwiderte, “dass mein Boykott-Aufruf in Einklang mit der Empfehlung des IOC stand und dass ich die Sperrung meines Accounts als Zensur empfunden habe”.

An Liga-Organisator Jens Hirneise wandte sich Drewello mit der Bitte, entweder alle russischen/belarussischen Teams/Spieler zu sperren oder Liga bis auf Weiteres einzustellen, sollte eine solche Sperre technisch nicht möglich sein. Mit diesem Anliegen hatte er keinen Erfolg. Auch Hirneise verweist auf das Lichess-Statement. “Daran bin ich gebunden, es ist die offizielle Lichess-Liga”, sagt Hirneise auf Anfrage dieser Seite.

Es folgte eine kontroverse Aussprache im Vorstand der SVG Offenburg, die in diesen offenen Brief mündete:

Offenburg, 15.03.2022

Liebe Schachfreundinnen und Schachfreunde,

seit 20 Tagen führt Russland einen erbarmungslosen, brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die schrecklichen Bilder sind Ihnen allen bekannt. Kein Tag vergeht ohne die schlimmsten Kriegsverbrechen.

Die Sportwelt hat daraufhin mit weitreichenden Sanktionen reagiert. Das Internationale Olympische Komitee ruft alle Organisatoren von internationalen Turnieren dazu auf, russische und belarussische Mannschaften auszuschließen. Das IOC macht dabei das Dilemma deutlich. Sicher sind unter den vielen russischen Sportlern Menschen, die den Krieg ablehnen. Aber während Sportler aus Russland und Weißrussland weiterhin an Sportveranstaltungen teilnehmen könnten, sind viele Sportler aus der Ukraine aufgrund des Angriffs auf ihr Land daran gehindert. Sie sind gezwungen, ihr Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Deshalb empfiehlt das IOC allen Organisatoren von internationalen Sportveranstaltungen, Mannschaften und Sportler aus Russland und Belarus auszuschließen. Sportarten wie Fußball, Handball, Basketball, die Leichtathletik oder Eishockey haben, wie selbstverständlich, diese Empfehlung umgesetzt.

Warum schreiben wir Ihnen das? Ihr Schachverein spielt wie 118 weitere deutsche Vereine (von insgesamt 450 Mannschaften) in der Quarantäne-Liga auf Lichess. Der Organisator, Jens Hirneise, Chefredakteur der Zeitschrift Rochade Europa, hat sich 2020 mit der Organisation dieses internationalen Mannschaftsturniers in Zeiten von Corona große Verdienste um den Schachsport erworben. Auf die Bitte, sich dem Aufruf des IOC anzuschließen, und russische und belarussische Mannschaften von der Liga auszuschließen, reagiert er nicht. Er verweist lediglich auf das von Lichess veröffentlichte Memorandum, in dem der Krieg verurteilt wird. Dies ist in der Welt des Schachs kein Einzelfall. Auch unser Weltverband, die FIDE, verschließt vor den dramatischen Ereignissen mehr oder weniger die Augen. In Berlin wird am 21. März der Schach Grand Prix mit voraussichtlich 5 russischen Großmeistern starten. Was unsere nationale Vertretung, der DSB, hierzu verlautbaren lässt, ist nur noch peinlich.

Wir, der Vorstand der Schachvereinigung Offenburg, haben diese Situation kontrovers diskutiert. Wir sind zu der Auffassung gelangt, dass in einer derartig schlimmen Situation die Wiedergabe von Selbstverständlichkeiten, wie in dem Memorandum von Lichess, nicht ausreicht. Deshalb schließen wir uns vollumfänglich der Forderung des IOC an. Aus Protest gegen die Haltung der Organisatoren der Quarantäne-Liga haben wir unsere Mannschaft am Montag, den 14.3.22, aus der Quarantäne-Liga zurückgezogen. Diese Entscheidung ist für viele unserer Mitglieder ein Verlust. Wir haben uns gerne jeden Donnerstag- und Sonntagabend mit immer wieder neuen Mannschaften gemessen. Für die meisten unserer Mitglieder war dies die einzige Möglichkeit, einmal gegen einen GM oder IM zu spielen. Aber, es ist nur eine winzig kleine Entbehrung gegenüber dem Leid und den Qualen, die alle Ukrainer seit 20 Tagen ertragen müssen!

Wir fordern Sie hiermit auf, unserem Beispiel zu folgen, ein Zeichen gegen den Krieg zu setzen und aktive Solidarität mit der Ukraine zu üben. Wir können damit auch Druck auf unseren nationalen Verband ausüben. Es kann nicht sein, dass Schach den Anspruch erhebt, Sport zu sein, und dann als einziger großer Sportverband dem schlimmsten Ereignis seit dem zweiten Weltkrieg tatenlos zuschaut. DANKE für Ihre Unterstützung!

Für den Vorstand der Schachvereinigung Offenburg

Hansjörg Drewello

Helmut Ruf

Uwe Rauch

Harald Mayer

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mathlog
2 Jahre zuvor

Es geht bei Lichess auch gar nicht darum, russische Spieler auszuschließen – das wäre schon wegen der Anonymität gar nicht möglich, sondern es geht um den Ausschluss von deklariert russischen oder belorussischen Mannschaften. (Nebenbei bemerkt sind die ukrainischen Teams auf Lichess schon seit einigen Wochen nicht mehr aktiv.)

Amontillado
Amontillado
2 Jahre zuvor

Der Artikel ist inzwischen 11 Tage alt, daher würde es mich mal interessieren, wie die Situation sich hier entwickelt hat. Sind deutsche Teams dem Aufruf gefolgt?

‘tschuldigung, wenn das schon irgendwo angesprochen worden ist, aber ich wollte mich nicht durch die Kommentarflut vom Kollegen Kandic quälen.

Kandic Milan
Kandic Milan
2 Jahre zuvor

Liebe Schachfreunde,
jeder normaler Mensch ist gegen jeden Krieg.
Wenn wir gegen Krieg sind, dann sollen wir auch nicht Waffen dorthin liefern oder…
Ausserdem, oft lese ich dass man die russische Sportler sanktioniert. Hat jemand jemals einen US-Sportler sanktioniert als USA die Kriege in Irak, Lybien, Afghanistan, Syrien geführt hat? Warum gibt es verschiedene Kriterien?
Ich denke, wir Europäer sollen gut überlegen bevor wir mit dem “Pfinger auf jemanden zeigen” und jemanden verurteilt.
Wir alle müssen dazu beitragen, dass es nirgendswo mehr Krieg geben wird. Dass wir alle friedlich miteinander leben!