Nein, das ist kein Tausend-Dollar-Schachbrett. Ich habe es in einem Billard-Laden bei mir im Ort gekauft, nachdem ich irgendwann festgestellt hatte, dass ich gar kein Schachbrett mehr besitze.” So beantwortete Magnus Carlsen die Frage des in seiner Wohnung in Oslo filmenden Chess 24-Kamerateams nach einem an der Wand lehnenden Schachbrett. Die Filmleute dokumentierten, wie Carlsen lebt, und der beantwortete bereitwillig Fragen zu Accessoires in seinem Heim.
Die Aufnahmen sollten die infolge der Corona-Einschränkungen ins Leben gerufene, online ausgetragene „Champions Chess Tour” bewerben. Der Weltmeister führte aus, dass er gerade jetzt kaum einmal ein Brett braucht:
„Schach spielt sich momentan nur online ab oder in meinem Kopf.”
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Es tut mir leid, es ist nur in meinem Kopf, nur in meinem Kopf … dieses Spiel ist so alt wie du und ich…
Die Fantastischen Vier
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Songzeilen der Stuttgarter Hip-Hop-Gruppe Die Fantastischen Vier assoziierten sich mir beim Betrachten des Chess-24-Videos, hervorgerufen möglicherweise auch durch die Schach-Verbindung von deren Bandmitglied Smudo (einer der drei Rapper der Band). Als Jugendlicher war dieser einst in einer Schulschach-AG, später nahm er auf einen Martinique-Urlaub außer seiner Freundin auch noch einen Schachcomputer mit.
Die Beziehung ging vorüber, Schach blieb. Später besorgte sich Smudo Lehrbücher von John Nunn und vom Trainer und Schachpsychologen Nikolai Krogius. Nachzulesen ist das einem Interview von 2004 mit „Neues Deutschland“, ein Nachdruck mit der Überschrift „Blitzschach ist wie schneller, schmutziger Sex“ ist auch bei Chessbase zu finden.
Ist man selber nicht gerade aus genialem Weltmeisterkaliber geschnitzt, aber trotzdem ein allzeit interessierter Schachjünger, reicht einem der Kopf allein zum Spielen oder Studieren von Schachpartien nicht. Wir Normalbegabten haben in der Regel an jedem Ort, an dem wir uns länger aufhalten, ein Schachset vorrätig. Denn es gilt, nicht nur jederzeit mit einem Gegner zu rechnen, sondern auch mit einem Schachproblem, das man näher untersuchen muss.
Genau aus diesem Grund habe auch ich meinen bereits gegen Ende der 1980er-Jahre gekauften Schachcomputer „COMPANION III” bisher nicht weggeworfen. Funktionieren tut das Ding zwar längst nicht mehr, mit seinen praktischen Magnetfiguren leistet es mir aber immer noch gute Dienste, wenn ich gelegentlich im Haus meiner Eltern zu Besuch bin. Dieses Kindheits-Überbleibsel fiel mir zuletzt beim mehrtägigen Weihnachtsbesuch wieder mal in die Hände.
Schachgegner aus Fleisch und Blut gab es in meinem Umfeld nicht, weshalb ich mir seinerzeit mit einem Teil des Konfirmationsgeldes diesen heute fast schon prähistorischen Plastikkasten im Versandkatalog von „Quelle“ ausgesucht und bestellt hatte. Schachspielen hatte ich mir zuvor und mit Hilfe von Großmeister Helmut Pflegers Büchern „Schach -Zug um Zug“ selber beigebracht (wie bereits in meinem Artikel „Herr Springer spielt Dauerschach“ beschrieben).
Vom „Companion III“-Set sind im Lauf der Zeit ein paar Originalfiguren abhanden gekommen (Staubsauger!). Sie wurden notdürftig jeweils aus der Spielesammlung ersetzt.
Auf der Rückseite des Schachcomputers sind von damals noch einige ziemlich vergilbte Schach-Notationen aufgeklebt. Es handelt sich um die Partien 16 bis 20 der Schach-WM 1990. Die Züge wurden damals noch regelmäßig in der Tageszeitung abgedruckt und speziell diese vier Partien, die das letztmalige WM-Aufeinandertreffen der ewigen Rivalen Garri Kasparow und Anatoli Karpow praktisch entschieden haben, hatte ich ausgeschnitten.
Auf der bereits erwähnten Weihnachtsheimreise hatte ich mir unterwegs in einer Bahnhofsbuchhandlung die brandneue Ausgabe 1/2022 der Zeitschrift „Schach” besorgt. An einem der folgenden Abende schmökerte ich vor dem Einschlafen ein wenig darin, überflog die frisch gefertigten Partieanalysen der kurz zuvor erst zu Ende gegangenen Schach-WM Magnus zwischen Carlsen und Ian Nepomniachtchi.
Welche Partien aus diesem Duell hätte ich mir als Kind wohl ausgeschnitten und aufbewahrt, um sie nachzuspielen? Auf jeden Fall zumindest die beiden von Magnus Carlsen mit 1.d4 begonnen und besonders umkämpften Partien Nr. 2 und Nr. 6, die in der Schachzeitschrift von Robert Hübner und Mihail Marin gewohnt kompetent untersucht werden.
Bereits im Bett liegend nahm ich mir vor, auf dem Brett des ausrangierten Schachcomputers genau diese beiden spannenden Duelle mit ihren zahlreichen Variantenverästelungen nachzuspielen, brach mein Vorhaben aus Müdigkeitsgründen allerdings bald ab. Robert Hübners Untersuchung umfasst sechs Zeitschriftenseiten, die von Marin (zur allerdings viel längeren Partie Nr. 6) gleich neun.
Ersatzweise griff ich zu etwas Leichterem: den ebenfalls bereitliegenden „Gesammelten Werken“ des Dichters Joachim Ringelnatz (der Lesern dieser Seite auch im Beitrag „Beinahe Weltklasse: Rudolf Swiderski aus Leipzig – eine Spurensuche“ begegnet ist). Wieder mal stieß ich darin auf eines meiner Lieblingsgedichte. Es heißt „Die Ameisen“ und zählt zu den bekanntesten Werken von Ringelnatz, der es 1912 erstmals veröffentlichte. In Versform erzählt es über den Verzicht auf große Pläne, beschreibt, wie zwei Ameisen von Hamburg aus um die halbe Welt wandern wollen, ihr vorhaben aber bereits kurz nach dem Aufbruch („bei Altona auf der Chaussee“) wegen Beinweh wieder aufgeben:
In Hamburg lebten zwei Ameisen,
Die wollten nach Australien reisen.
Bei Altona auf der Chaussee
Da taten ihnen die Beine weh,
Und da verzichteten sie weise
Denn auf den letzten Teil der Reise.
Ihr Ziel Australien erreichten die Titelameisen zwar nicht, stattdessen wurde ihnen immerhin im Jahr 2014, also über hundert Jahre später, in Altona eine Skulptur in Bronze gewidmet.
Nach dem Löschen des Lichts kreisten in meinem müden Kopf also ein Fanta-Vier-Songtext, zwei im Nirgendwo gestrandete Ameisen, die im Laufe der Jahrzehnte verlorengegangen Figuren meines alten Schachcomputers „Companion III“ und das wohl für immer unbenutzt an der Wand lehnende Schachbrett in Magnus Carlsens Wohnung.
All diese Bilder vermischten sich zu einem neuen Gedicht. Kurz vorm Eindämmern konnte ich es gerade noch in mein Smartphone notieren:
Bauer über Board
Vom Schachbrett, das am Neckar stand,
Fiel ein Bauer in die Fluten,
Der gleich in einem Hecht verschwand.
Doch bereits nach zwei Minuten
Da spie das Vieh den Bauern aus,
Denn der drückte bös im Magen!
(Es scheint, er war kein Gaumenschmaus)
Dann, nach vierundsechzig Tagen,
Da bog der Bauer in den Rhein,
Fand dort weit’re Schachfiguren
Das freute ihn echt ungemein!
Dann verlor’n sich seine Spuren.
(© Martin Hahn alias Nathan Rihm)
Unter seinem Pseudonym „Nathan Rihm“ hat Martin Hahn bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht. Mehr über ihn auf der Nathan-Rihm-Fanpage bei Facebook. Kontakt: nathanrihm@gmx.de
Ich habe auch noch einen Mephisto von ca. 1990 mit Lehrbuch von Helmut Pfleger auf dem Dachboden liegen, der sogar noch funktioniert. War eine schöne Zeit.
Danke für diesen Gedankenanstoß! Vielleicht sollte ich in meinen Chess Companion ja auch einfach mal wieder Batterien reintun, vielleicht läuft das Ding ja noch…
Wird bei nächster Gelegenheit überprüft. ✅