Käme Vincent Keymer inkognito beim Jugendschach am Bodensee vorbei und würde das aufs Brett stellen, was er gestern im Baltikum aufs Brett gestellt hat, sehr bald würden wir ein strenges Urteil fällen: Dieser Junge braucht Hilfe, er kann den Caro nicht.
Offensichtlich hat der Junge nicht verstanden, warum Weiß analog zu Vorbildern aus der französischen Vorstoßvariante 8.a3 gezogen hatte: Weiß plant, mit 9.b4 Raum am Damenflügel abzugreifen. Dem begegnen wir entweder mit 8…c4 oder mit 8…cxd4. Verstehst du?
Was wir, die wir dem Kinderschach entwachsen wollen, bestimmt nicht ziehen, ist 8…Le7, ein Zug der nichts leistet – außer dem Sg8 ein Entwicklungsfeld zu versperren. “Komm, Junge, den darfste zurücknehmen, denk noch einmal darüber nach.”
Nun saß gestern im Baltikum auf der weißen Seite kein Aushilfscoach vom Bodensee, sondern jemand, der mit einem Elo von 2765 vor gar nicht allzu langer Zeit zu den besten 10 Schachspielern der Welt zählte. Und der, so weit richtig, tatsächlich 9.b4 plante. Er zog es nämlich, nachdem Keymer flugs 8…Le7 aufs Brett gestellt hatte. Aber dann offenbarte sich, dass der Junge auf der anderen Seite des Brettes keinerlei Hilfe braucht, zumindest nicht von Amateuren.
Yu Yangyi kam bei vollem Brett niemals in die Nähe von irgendetwas, Keymer zog schnell, hatte sein Konzept offenbar vorbereitet, hielt den Laden dicht, und nach 40-zügigem Hin- und Herlavieren einigten sich die Kontrahenten auf Unentschieden. Obendrein hatten sie eine Kuriosität produziert: 40 Züge gespielt, volles Brett:
Das war der eine halbe Punkt, der der fünfköpfigen deutschen Delegation zum Grand-Swiss-Auftakt durch die Lappen ging, und das war in Ordnung. Mit Schwarz in einer nicht ganz unkritischen Variante gegen einen 2700er nichts anbrennen lassen, damit kann Vincent Keymer wahrscheinlich leben,
In Dänemark haben sie auch einen Vincent Keymer, Jonas Buhl Bjerre heißt er, und der war für den anderen halben Punkt zuständig, den unser Quintett nicht einsackte. In diesem Fall ein für Alexander Donchenko verlorener halber Punkt. Was die Maschine zwischenzeitlich als “plus sieben” bewertete, mündete in ein Endspiel, in dem sich der junge Däne eine Festung zu bauen vermochte, die dem mächtigen Schloss Kronborg zur Ehre gereichen würde.
Ansonsten: Siege!
Den Glanzpunkt aus deutscher Sicht setzte fraglos Dmitrij Kollars, der über den WM-Herausforderer von 2012 triumphierte. Boris Gelfand schien ein wenig zu driften, aber es war noch nichts angebrannt, als dem 52-Jährigen ein Rechenfehler unterlief. Den Zwischenzug, der Kollars ein mehr oder weniger gewonnenes Turmendspiel bescherte, hatte der Israeli wahrscheinlich schlicht übersehen:
Außerdem siegten Matthias Blübaum und im Frauenturnier Elisabeth Pähtz. Blübaum gewann technisch, Pähtz aus einem Durcheinander hinaus.
Am heutigen Donnerstag um 13 Uhr geht es weiter. Die Paarungen (via Schachbund):
Liveübertragung:
auf chess.com
auf chess24
(Titelfoto: Deutscher Schachbund)
Feedback: also ich ziehe es vor, wenn man die Partien auf der Website direkt nachspielen kann, anstatt auf Video-Verlinkungen zu klicken.