Am Ende kam das Glück des Tüchtigen dazu. Zwei Runden vor Schluss hatte sich Vincent Keymer 1,5 Punkte Vorsprung auf die Konkurrenz erarbeitet, prächtige Aussichten, aber durch war er noch nicht. Dann diese Schwarzpartie gegen den Israeli Yahli Sokolovsky. “Meine Stellung war tot”, räumte Keymer anschließend ein. Doch der letzte taktische Trick bei beiderseits knapper Bedenkzeit hauchte der Position des 16-Jährigen neues Leben ein. Keymer gewann die Partie und das Turnier der weltbesten Junior:innen, die Hou-Yifan-Challenge.
Nach der 16. und letzten Runde offenbarte sich gar, dass sich der angehende Abiturient auch eine Null hätte leisten können. Das Turnier gewonnen hätte er trotzdem. Mit zwei Punkten Vorsprung distanzierte Keymer die Konkurrenz, darunter die großmeisterlichen Wunderknaben Praggnanandhaa (Indien) und Awonder Liang (USA). 13,5 Punkte standen nach 16 Partien zu Buche.
Die von Julius Bär gesponserte Challengers-Chess-Tour ist auch als Angebot an die Spieler gedacht, besser zu werden. Judit Polgar und Vladimir Kramnik betreuen die Youngster, dazu eine Reihe renommierter Coaches. Jetzt bei der Hou-Yifan-Challenge war der einstige Vizeweltmeister Boris Gelfand mit von der Partie.
Als Kommentator pries der Israeli Keymers Stellungsgefühl und dessen Technik, konnte sich aber nicht verkneifen, an einer Stelle mahnend den Zeigefinger zu erheben: “Peter Leko wird unglücklich sein, dass Vincent nicht Txe6 gespielt hat.”
Nach dem Turnier offenbarte Keymer, dass es ihm keinesfalls an Schachkultur fehlt. Stattdessen guckt er schlicht genauer hin als die gefühlsgesteuerten Gelfands und Hammers. Auch Keymer empfand hier 16.Txe6 als positionell sehr wünschenswert, sah aber einen taktischen Haken: 16…fxe6 17.Lxb7 Txc4 18.bxc4 Db6 mit Doppelangriff auf die beiden Läufer. Ihm war entgangen, dass nach 19.Db3 bei Weiß alles gut wäre. “Ich habe Gespenster gesehen.”
Als eine zentrale Partie des Turniers bezeichnete Keymer die gegen den vermeintlichen Hauptkonkurrenten Praggnanandhaa, der mit 9/9 fulminant gestartet war. Ein zentraler Moment dieser zentralen Partie sei derjenige gewesen, als der Inder im 16. Zug ohne Not und zur Freude des Deutschen sein Läuferpaar aufgab.
“Davon träumst du bei dieser schnellen Bedenkzeit. Du stehst besser, und dann kannst du spielen, spielen, spielen, während der Gegner sehr präzise vorgehen muss, um ein Unentschieden zu bekommen.” Pragg habe sich für eine lange Zeit gut verteidigt, aber unter Zeitdruck ergebe es sich beinahe zwangsläufig, dass Fehler passieren, sagte Keymer.
Schlüssel zum Turniersieg sei allerdings vor allem der starke erste von vier Tagen gewesen, erklärte Keymer. Frühe Siege gegen die vermeintlichen Mitkonkurrenten Awonder Liang (besonders sehenswert) und Volodar Murzin waren die Basis, von der aus Keymer aufbrechen konnte, um zum zweiten Mal in Folge den Challengers-Gipfel zu erklimmen.
Keymer hat nun das zweite Ticket für die Carlsen-Tour der Weltelite gelöst, die Meltwater Champions Chess Tour, außerdem hat er sich für das Finale der besten acht Spieler der Julius-Bär-Junior-Tour qualifiziert. Dort gibt es neben 40.000 Dollar Preisgeld einen Jackpot zu gewinnen: Der Sieger wird regulärer Teilnehmer der Meltwater-Tour als deren Botschafter.
Mit der Qualifikation für das Junior-Finale vom 14. bis 17. Oktober beschert sich Vincent Keymer erneut eine Terminkollision, die zweite schon zwischen Online-Turnieren und solchen am Brett. Im Juli hatte er sich gegen den World Cup und für die Dortmunder Schachtage entschieden, Anfang September für die Europameisterschaft und gegen die Carlsen-Tour. Jetzt hat er im Oktober die Wahl: Ebenfalls am 14. Oktober beginnt die Berliner Endrunde der Schachbundesliga, die die längste Saison ihrer Geschichte mit einem zentralen Finale abschließen und einen Meister 2019-21 küren wird.
Keymers Team, die Schachfreunde Deizisau, sind als Tabellenvierter mit drei Punkten Rückstand auf Baden-Baden noch nicht aus dem Meisterschaftsrennen ausgeschieden. Aber um tatsächlich noch oben einzugreifen (und im direkten Vergleich mit Baden-Baden zu bestehen), wäre es hilfreich, den Top-Scorer der Mannschaft an Bord zu haben. Im bisherigen Saisonverlauf hat Keymer 5,5 Punkte aus 7 Partien erzielt, dieselbe Bilanz, die ihm auch beim 2020er-Meisterschaftsturnier der Bundesliga gelang.
Diesen Terminkonflikt auf die eine oder andere Weise aufzulösen, dürfte in der kommenden Woche ganz unten bzw. gar nicht auf Keymers Agenda stehen. Am heutigen Mittwoch ist Keymer nach Malmö/Schweden geflogen, wo morgen das TePe-Sigeman-Rundenturnier beginnt. Dort sollte eigentlich nach langer Schachpause wieder Exweltmeister Anatoli Karpov (70) mit von der Partie sein, hat aber kurzfristig abgesagt.
Ein spannendes Feld haben die Organisatoren gleichwohl zusammengestellt. Die etablierten Spitzengroßmeister Jorden van Foreest, Gawain Jones, Nils Grandelius und Etienne Bacrot treffen auf den einstigen Vizeweltmeister und heutigen FIDE-Vizepräsidenten Nigel Short sowie drei der vielversprechendsten Junioren des Weltschachs: Nihal Sarin (Indien), Jonas Buhl Bjerre (Dänemark) und Vincent Keymer.
Die erste Runde beginnt am Donnerstag um 14 Uhr. Liveübertragung mit Kommentar.
(Titelfoto: Thorstein Magnusson/Reykjavik Open)
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