Giri bleibt dran

Hätte doch Wang Hao das Endspiel gegen Nepo gehalten. Im Sinne eines möglichst spannenden Turniers wäre das ein Segen gewesen. Jetzt haben sich trotz Giris Sieg die Chancen für den Russen nochmal erhöht.

Alles hängt an der Partie Nepomniachtchi-MVL am Montag in der vorletzten Runde. Gelingt dem Franzosen ein Schwarzsieg, wäre das Turnier noch einmal offen, dann wäre sogar MVL wieder im Rennen. Aber weil MVL mit Schwarz Risiko wird nehmen müssen, ist ein Sieg Nepomniachtchis deutlich wahrscheinlicher. Und damit wäre das Turnier vor der letzten Runde entschieden.

Ich bin gespannt, was MVL am Montag spielen wird. Irgendetwas mit …g6 und …d6? Eine richtige Alternative zu seinem Najdorf hat er ja nicht. Aber gegen seinen Najdorf gibt es gleich eine Reihe von Varianten, mit denen Nepo die Luft aus der Partie lassen könnte. Sollte tatsächlich 1.e4 c5 2.Sf3 d6 auf dem Brett stehen, würde ich 3.Lb5+ erwarten, und Nepo wird remis machen.

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Remis wollte Nepo ja schon in der 12. Runde, aber Wang Hao hat es nicht erlaubt. Eine mysteriöse Partie. Zum Beispiel in Zug 39: Wang Hao denkt 5 Minuten nach, dann zieht er 39.Te7, ein Zug, der eigentlich nicht einmal ein Kandidat sein sollte. Ganz merkwürdig, er scheint wirklich nicht gut drauf gewesen zu sein. Wang Hao hat ja selbst gesagt, er habe das Endspiel verteidigt wie ein 2200er, das ist auf diesem Level schon eine harte Selbsteinschätzung.

Wang Haos Aufgabe war überraschend, aber die Stellung ist sehr unschön mit dem Sargnagel auf h3. Einen konkreten Grund, in dieser Stellung aufzugeben, gibt es noch nicht. Andererseits wird sie mit höchster Wahrscheinlichkeit verlorengehen.

Wahrscheinlich war Wang Hao in der Eröffnung überrascht. 1…e5 von Nepo ist schon eine Rarität, Russisch umso mehr. Eigentlich ist die Remisbreite in dieser symmetrischen Stellung aus der französischen Abtauschvariante sehr hoch. Das hat Wang Hao angestrebt, wieder überraschend war dann 8…De7.

Das System mit 8.De2+ empfehle ich sogar in meinem Keep-it-simple-e4-Repertoire für Weiß. Bei aller Symmetrie spielt sich das nämlich sehr angenehm für den Weißen. Nepos …De7 handele ich schnell ab als den Zug, den Weiß sehen will, um leichten Vorteil zu bekommen.

Bei dieser Einschätzung bleibe ich, die weiße Stellung fand ich lange angenehm. Klar, Vollsymmetrie, trotzdem ist das etwas nervig für Schwarz. Es kommt 0-0 nebst Te1+, Weiß punktet damit ganz gut. Die meisten Experten spielen deswegen eher 8…Le6 statt 8…De7, dazu gibt es Top-Partien.  

Giri, wow. Gewinnt auf Bestellung mit Schwarz gegen die Nummer zwei der Welt, lässt ihn aussehen wie ein Kind. Sehr stark, extrem gut, beeindruckend. Caruana kam gar nicht richtig in die Partie rein, und das, obwohl er sich eigentlich nur eine richtige Fehleinschätzung erlaubt hat, 17.b2-b4(-b5), von dem er sich wahrscheinlich Vorteil erhofft hatte, aber feststellen musste, dass das zu gar nichts führt. Die Stellung danach sieht strategisch günstig für Schwarz aus, und Giri hat es souverän nach Hause gefahren.

Nach gut 30 Zügen sagt die Maschine aus Caruanas Sicht schon „minus 5“, obwohl es auf den ersten Blick noch gar nicht so schlimm aussieht. Aber die weiße Königsstellung ist eine Katastrophe, und der Computer sieht schon den Exitus kommen. Aus menschlicher Sicht ist am Ende so schlimm, dass du einerseits diesem Angriff ausgesetzt bist, deswegen wahrscheinlich nach Wegen suchst, die Damen zu tauschen, damit du nicht matt wirst. Aber selbst wenn dir ein Abtausch der Schwerfiguren gelingt, sind alle Endspiele verloren. Weiß hat keinerlei Perspektive, er findet keinen Strohhalm, kein Szenario, das einen halben Punkt hergeben könnte.

Psychologisch interessant war der Moment, als Giri 40…Ta2 gezogen und wahrscheinlich erwartet hat, dass Caruana nun aufgibt. Stattdessen kam 41.Tb1 mit Mattdrohung, das hatte Giri übersehen. Und er hatte nichts Besseres, als seinen Fehler zu korrigieren, indem er seinen Turm wieder zurück nach a8 fährt. Aber so einen Fehler einzugestehen, einen Zug quasi zurückzunehmen, das ist eine Hürde, die erst einmal überwunden werden muss.

Auch die Eröffnungswahl von Giri war gelungen. Seine Zugfolge mit 2…e6 war eine Einladung an Weiß, in den Sveschnikov zu gehen: Nach 6.Sdb5 würde es ein solcher. Der Vorteil an Giris Zugfolge ist, dass Schwarz Rossolimo 3.Lb5 vermeidet. Der Nachteil ist die Möglichkeit 6.Sxc6, was als kritischer Test dieses Abspiels gilt. Dort wird Giri etwas Interessantes vorbereitet haben – was Caruana wahrscheinlich nicht antizipiert hatte. Giri hatte diese Stellung bislang kaum einmal auf dem Brett. Und ohne konkrete Vorbereitung ist 6.Sxc6 nicht so einfach zu spielen.

Giri wiederum konnte erwarten, dass Caruana die Einladung nicht annimmt. Durch Giris Zugfolge war ja der 7.Sd5-Sveschnikov ausgeschlossen, es hätte sich eine der alten Hauptvarianten ergeben. Und die sind mehr oder weniger bis zum Remis analysiert – was sich Caruana nicht leisten konnte. 6.a3 fand ich nicht unclever. Das nimmt alle forcierten Abspiele aus der Stellung, es wird dann einfach eine sizilianische Partie ohne große Theorie dahinter.

Alekseenko, tja, bei allem Respekt, aber was ist das bitte für eine Vorbereitung? MVL hat gegen Caro-Kann 3.f3 gerade erst in Wijk gegen Alexander Donchenko gespielt, damit konnte er rechnen.

Darauf musste er doch vorbereitet gewesen sein. Stattdessen stand er, wieder, nach sieben Zügen schlecht. 20 Minuten an 7…Dc7 überlegt, noch einmal drei Züge später steht er nach Computermaßstäben auf Verlust. Merkwürdig. Mit einem normalen Eröffnungsresultat im Rahmen eines Kandidatenturniers hat das nichts zu tun.

Aus Ding Lirens Perspektive staune ich, dass die Weißen immer wieder diese Variante aufs Brett bekommen. Objektiv ist das natürlich in Ordnung für Schwarz, aber der Schwarze setzt sich anhaltendem Druck und Raumnachteil aus. Das sind nach meinem Geschmack sehr freudlose Stellungen, solide zwar, aber keine schöne Art, den Nachmittag zu verbringen.

Tabellenstand via chess.com
Paarungen der 13. Runde via chess24

Am heutigen Sonntag ist Ruhetag in Jekaterinburg. Am Montag um 13 Uhr geht es weiter. Liveübertragung hier.


Spätestens mit seiner Zusammenarbeit mit Magnus Carlsen und dessen Sekundant Peter Heine Nielsen avancierte IM Christof Sielecki zu einem der renommiertesten Schachautoren weltweit. Anfang dieser Woche erschien auf Chessable Sieleckis neuestes Werk über die Pirc-Verteidigung. Exklusiv für die Perlen vom Bodensee begleitet Sielecki das Kandidatenturnier in Jekaterinburg.

Wang Hao hielt sich jetzt an das von Christof Sielecki in einem 1.e4-Buch empfohlene Anti-Russisch-Rezept. Leider hatte der Chinese einen denkbar schlechten Tag erwischt.
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Thomas Richter
Thomas Richter
2 Jahre zuvor

Zu Caruana-Giri: “6.a3 fand ich nicht unclever. Das nimmt alle forcierten Abspiele aus der Stellung, es wird dann einfach eine sizilianische Partie ohne große Theorie dahinter.” Ich würde sagen “jein”. Es wurde ja ein relativ normaler Scheveninger, in dem dann beide dafür typische Züge machten. Allgemeines Eröffnungswissen hatten sie wohl schon, nur keinen Autopiloten – daher relativ früh in der Partie pro Zug 5-10 Minuten. Auch das hier neue 9.Dd3 hatte sich nach 14.Dg3 relativiert, gängig ist Dd1-e1-g3. Unklar später nur, warum Weiß 6.a3 spielte (sollte sicher -Lb4 verhindern), und 17.b4!? wollte dann vielleicht auch 6.a3 rechtfertigen. Zu MVL-Alekseenko: Schwarz rechnete… Weiterlesen »

Tobias
Tobias
2 Jahre zuvor

Werden von den letzten Runden auch noch Berichte geschrieben?
Ich würde mich sehr freuen. Christofs (Eröffnungs-)Einblicke haben mir sehr gefallen.