Virus, Wasa, Wunderbrett – Rück- und Ausblick nach einem kuriosen Jahr (I)

Nun, da das Jahr 2020 sich dem Ende neigt, können vor allem Schachspieler dem neuen Jahr freudig entgegenblicken. 2021 beginnt mit – klassischem Schach, mit dem traditionellen Weltklasseturnier in Wjk an Zee, dem Tata Steel Chess. Wer dem Twitter-Account dieser Seite folgt, wusste lange vor der offiziellen Verkündung, dass trotz Corona das Tata-Turnier stattfinden würde, der wusste sogar, wer mitspielt, bevor es offiziell verkündet war.

Neugierig, was sich die Organisatoren im Angesicht der Pandemie einfallen lassen würden, waren wir wegen Roven Vogel. Der hat Anfang 2020 das C-Turnier in Wijk gewonnen und wäre für das stark besetzte B-Turnier 2021 qualifiziert, in dem er unter anderem auf Vincent Keymer getroffen wäre. Allerdings muss sich der einstige U16-Weltmeister aus Dresden gedulden. Tata Steel Chess wird 2021 kein Festival, die Veranstaltung wird sich auf das mit Weltklassespielern gespickte A-Turnier beschränken.

Vogel sieht das entspannt. Er geht davon aus, dass er zum B-Turnier 2022 eingeladen wird.

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https://twitter.com/tatasteelchess/status/1335887974899314690

Eines der Schachwörter des Jahres 2020 war “Hybrid”. Es beschreibt eine Turnier- und Wettkampfform, die Online- und Offline-Schach mischt. Wer zum Beispiel in Berlin ein Open ausrichtet, den hindert nichts daran, auch in Moskau, Delhi, London und New York Turniersäle zu eröffnen. Das Berliner Turnier würde an fünf Orten gespielt, mehr Spieler könnten teilnehmen, und es würden viel weniger Flugkilometer anfallen.

Wenn in der Schachbundesliga der FC Bayern gegen Werder Bremen spielt, warum sollten sich nicht die Bayern in München versammeln, die Werderaner in Bremen, verbunden durchs Internet? Beide hätten auf diese Weise einen Heimkampf, beiden wäre es überlassen, ihn fürs heimische Publikum und ihre Sponsoren attraktiv zu machen, keiner müsste reisen und das knappe Budget mit extra Übernachtungskosten belasten.

Dass Ausrichter künftig verstärkt über solche Angebote nachdenken werden, zeigt sich allein daran, dass sogar die FIDE erwägt, die zweite Hälfte des Kandidatenturniers hybrid auszurichten. Die beiden reiseunwilligen Chinesen könnten ja auch unter Schiedsrichteraufsicht von zu Hause aus mitspielen.

Wer nun glaubt, dass die Pandemie solche Ideen hervorgebracht hat, der schaue nach Schweden. Ende Januar 2020 hatte sich noch längst nicht herumgesprochen, dass ein Virus umgeht, aber die schwedische Pro-Chess-League-Mannschaft organisierte schon eine Hybrid-Veranstaltung: Zum Duell gegen die Germany Bears setzten die Schweden ihre Großmeister auf eine Tribüne, installierten Leinwände zum Zuschauen und machten aus dem Wettkampf der Online-Mannschaften eine Zuschauerveranstaltung. Bevor es losging, waren die Zuschauer eingeladen, untereinander ein Blitzturnier zu spielen.

Davon können wir lernen, nicht nur die Bremer und Bayern.

Online-Wettkampf als Zuschauerveranstaltung. Die Schweden machen es vor.

Ein Wunderwerk der Technik, ein Design-Meisterstück, beworben bei chess.com, chess24 und ChessBase. Wahrscheinlich hat nie ein Schach-Produkt so viel Aufmerksamkeit und Nachfrage generiert wie das Wunderbrett von Regium mit den geräuschlos, geschwind und wie von Geisterhand ziehenden Figuren.

Und das war noch vor dem Corona-Schachboom, vor Pogchamps, vor Beth Harmon. Von diesem Brett hätten sich im Schachjahr 2020 hunderttausende verkaufen lassen. Es gab nur ein Problem: Das Wunderbrett war ein Fantasieprodukt, erdacht, um mit einer Crowdfunding-Kampagne potenziellen Käufern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Niemand hat es je gesehen – außer in den mit einigen Aufwand produzierten Regium-Videos.

Bis feststand, dass es sich um einen Fake handelt, vergingen allerdings Wochen der Spekulation, was auch mit dem starken Wunsch von Beobachtern zusammenhing, dieser Schachspielertraum möge wahr sein. Erst mit Beginn der vermeintlichen Crowdfunding-Kampagne kollabierte das Regium-Kartenhaus.

Der Weltmeister und das Regium-Brett: Wenn sogar chess24 seinen Chef unter dem Regium-Logo spielen lässt, dann müsste doch etwas dran sein? Von wegen. Nach einiger Bedenkzeit räumten chess24 und chess.com ein, dass sie das Geld aus dem Regium-Werbeetat angenommen hatten, ohne genau hinzuschauen, wer hier bei ihnen Werbung treiben will.

Am 12. März 2020 erging ein dringender Ratschlag unserer Bundeskanzlerin an die Bevölkerung: Bleibt zu Hause, helft mit, die Ausbreitung des Virus’ einzudämmen! Tags darauf stellten die meisten Schach-Landesverbände den Spielbetrieb offiziell ein.

Die Schachspieler, die sich mit Viren am besten auskennen sollten, sind die Schach spielenden Ärzte. 79 Vertreter dieser Spezies reisten ungeachtet des angekündigten Lockdowns nach Bad Homburg, um ab dem 13. März ihre Meisterschaft auszutragen, ihren neuen Ärzteschach-Verein zu gründen und sich im Simultan einem Angehörigen der Hauptrisikogruppe zu stellen, dem Großmeister und Arzt Helmut Pfleger. Auch der war nach Bad Homburg gereist.

Obwohl sonst unsere Freunde vom Schachbund und von ChessBase den Veranstaltungen der Schachärzte gerne und ausführlich Raum geben, erfuhr von dieser Deutschen Meisterschaft erst einmal niemand etwas, auch nicht von der Vereinsgründung oder dem Pfleger-Simultan – als ob es jemandem peinlich wäre. Es blieb einer Schachseite vom Bodensee vorbehalten, dem Neurologen und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Errit Rutz aus Neuwied zum Titel zu gratulieren.

Fotomontage: Franz Jittenmeier.

Das Kandidatenturnier 2020 sollte unbedingt stattfinden. Die FIDE ließ nichts unversucht, die acht WM-Kandidaten einzufliegen – außer dem Azeri Teimour Rdjabov. Der hielt das Austragen eines internationalen Turniers im ersten globalen Pandemiemonat März 2020 für unverantwortlich. Radjabov wurde ausgeladen, an seiner statt spielte Maxime Vachier-Lagrave.

Die erste Hälfte des Turniers fand statt, dann musste es abgebrochen werden, damit nicht alle Teilnehmer wegen eingestellter Flugverbindungen in Russland festsitzen. Im Frühjahr 2021 soll das Kandidatenturnier fortgesetzt werden. Wer immer es gewinnt und dann Magnus Carlsen zum WM-Kampf fordert, es wird der Schatten einer irregulären Qualifikation über der kommenden Weltmeisterschaft liegen.

Dieses Foto einer auf engem Raum versammelten Menschenmenge von der Eröffnung des Kandidatenturniers (ohne Spieler) war nur kurz auf offiziellen Kanälen zu sehen. Die FIDE ließ es schnell verschwinden. | Foto: Lennart Ootes/FIDE

(wird fortgesetzt)

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Stefan Meyer
Stefan Meyer
3 Jahre zuvor

Was für ein ereignisreiches Jahr! Die “hybride” Spielform kann ich mir gut als Ergänzung vorstellen, um auch einmal gegen Gegner spielen zu können, die ansonsten “unerreichbar” wären. Grundsätzlich möchte ich aber gern bald meinen Gegnern wieder am Brett gegenübersitzen dürfen. Ist es eigentlich sehr verwerflich, sich über die “Regium-Affäre” ein klein wenig zu amüsieren? Selbstverständlich gibt es keine Rechtfertigung für Betrug. Andererseits hält sich mein Mitleid in Grenzen, wenn Leute ihr Geld einem Unternehmen anvertrauen, von dem sie nichts wissen außer einem computeranimierten Video. Ausgerechnet der Schachspieler, der zwar nicht am Brett, sondern darüber hinaus, am weitesten und besten gerechnet… Weiterlesen »

Peter Kalkowski
Peter Kalkowski
3 Jahre zuvor

Nach der der Pandemie gilt es sich neu auf zu Stellen und durchzählen, auch in der Bundeliga. Ob manche Sponsoren ihren Mitarbeitern gegenüber in der entbehrungsreichen Zeit verantworten können weiter im Sponsoring zu investieren muss man abwarten. Viele tausende Mitarbeiter von Industrie, Handel und Dienstleister schauen verzweifelt auf ihre elektronische Steuerkarte 2020. Das hört sich für den Sport erstmal abwegig an aber Industrie, Handel und Dienstleister sind ja nun auch Sponsoren. Kurzarbeit und andere Lohn/Gehalt kürzende Maßnahmen sind leidige umstände der Pandemie. Thema Klima: Wie lange kann unsere Gesellschaft die Reiseveranstaltungen an Spieltagen der Sportbünde noch tolerieren. Hier sollte man… Weiterlesen »

Olaf Steffens
3 Jahre zuvor

Danke für den Rückblick, Conrad, auf Teil 1 eines schlimmen Jahres. Hoffen wir, dass 2021 einfach besser wird. Hybride Bundesliga – ja, aber nein, fürchte ich. Für die Bundesliga selber und ihre Spieler – eigentlich nicht optimal, die Profis aus weiter Ferne einzufliegen, um sie dann gegen andere Profis am Bildschirm spielen zu lassen. Wir Werderaner möchten lieber unsere Gegner direkt treffen, ihnen ins Gesicht sehen und ihre Hände schütteln. Ist es nicht viel spannender, als stundenlang als Team zusammen daheim an acht Bildschirmen gegen ein virtuelles Bayern zu spielen? Für die Zuschauer auch, denke ich – die kommen, wenn… Weiterlesen »