Raj Tischbierek, Chefredakteur der Schach, wähnt sich in einem Online-Albtraum, in dem die Kultur unseres Spiels rasant den Bach runtergeht. Anstatt am Brett schachliche Meisterwerke zu schaffen, zocken Weltklassegroßmeister am Bildschirm auf Zeit, und im meistbeachteten Turnier des Jahres 2020 spielten – Anfänger.
Ob Großmeister Tischbierek das Achtefinale der Online-Olympiade zwischen Deutschland und Ungarn verfolgt hat? Wenn ja, dann wahrscheinlich mit zunehmendem Unbehagen. Die Ungarn sind weiter (Glückwunsch!), aber das hat nichts damit zu tun, dass sie besser Schach spielen als die Deutschen. Sie sind weiter, weil im Armageddon dem Ungarn 0,3 Sekunden geblieben waren, als Dennis Wagners Zeit ablief. Jetzt darf sich Ungarn im Viertelfinale mit Russland messen, Deutschland ist draußen.
Die Auftritte ungarischer Nationalmannschaften bei Schacholympiaden können als Paradebeispiel herangezogen werden, wenn es gilt, die reiche jüngere Geschichte unseres Spiels zu dokumentieren. Die Schachnation Ungarn bringt immer wieder herausragende Spieler hervor, und der ungarischen Mannschaft gelang es beim großen Nationenvergleich als einziger, die Siegesserie der übermächtigen Sowjets zu brechen. Wir haben dem einstigen epochalen Ringen zwischen Ungarn und Sowjets vor einiger Zeit einen Beitrag gewidmet:
Jetzt hat die ungarische Mannschaft wieder Geschichte geschrieben, nur eben ganz anders. Zusammen mit der deutschen ist sie die erste, die jemals ein Achtelfinale einer Online-Olympiade gespielt hat, nun ist sie erste, die so ein Achtelfinale im Armageddon gewonnen hat. Am Ende entschied eine einzelne Blitzpartie über das Turnierschicksal der beiden gleichwertigen Teams.
Eine erste Überraschung servierten die Deutschen den Ungarn mit der Aufstellung: Elisabeth Pähtz, die in beiden Vorrunden ausgesetzt hatte, besetzte das erste Frauenbrett. Und sollten die Ungarn ganz oben in der Aufstellung ihrer Gegner die Namen Blübaum und Svane erwartet haben, werden sie überrascht gewesen sein, stattdessen Fridman und Wagner zu lesen.
Matthias Blübaums Aussetzen hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass er in Polen weilt, um dort Liga zu spielen. Svane hatte am Abend zuvor ein Match mit dem Weltmeister ausgefochten, wahrscheinlich nicht die beste Vorbereitung, um am Morgen danach Nationalmannschaft zu spielen. Damit setzten zwei Spieler aus, die vor der Olympiade angesichts des gärenden Falles Pähtz erklärt hatten, nicht mit ihr in einer Mannschaft spielen zu wollen. Deren Aussetzen mag dem Bundestrainer den Weg eröffnet haben, Pähtz im Achtelfinale einzubauen. Dafür bedankte sie sich mit zwei Punkten aus zwei Partien.
Lotto als letzte Lösung
Zwei Matches waren zwischen beiden Teams zu spielen. Würde es danach Unentschieden stehen, sollte eine Armageddon-Blitzpartie zwischen zwei von den jeweiligen Coaches nominierten Spielern entscheiden, wer weiterkommt.
Tatsächlich stand es nach beiden Matches unentschieden. Das erste gewannen die Ungarn, das zweite die Deutschen. Beim Stand von 2,5:2,5 gewann Elisabeth Pähtz ein günstiges Läuferendspiel und hielt ihre Truppe im Turnier.
Im Armageddon dann das:
Muss es denn sofort das Sekundendrama sein? Die Schacholympiade ist kein privates Einladungsturnier, sondern ein Wettbewerb mit einer beinahe 100-jährigen Geschichte, in dem es stets darum ging, welche Mannschaft besser ist, nicht, welcher einzelne Spieler schneller ziehen kann. Hier eine Sofortentscheidung per Armageddon zu installieren, degradiert den Nationenvergleich zur beliebigen Zockerei.
Und wäre es nicht schöner, wenn wir zwischen zwei so ausgeglichenen Teams mehr ausgekämpftes Schach sehen könnten? Wenn es nach zwei Matches unentschieden steht, dann sollen sie halt ein drittes spielen. Gerne auch ein viertes. Und wenn sie partout keinen Gewinner finden, dann halt ein Armageddon.
Als letzte Lösung taugt dieses Lotto durchaus, so wie das Elfmeterschießen in einer anderen Sportart. Aber auch da gibt’s erst einmal die Verlängerung.
Cmiels “Hat den Kontakt verloren… ” usw. ist vielleicht eine Nummer zu groß. Aber zu fragen, was das soll und ob das irgendwem nützt, ist mehr als angemessen. Eine Antwort seitens der FIDE hat sich bislang nicht offenbart.
Ich bin der Erste, der AU sagt (Armageddon-Unsinn), aber bei einer knappn Entscheidung zugunsten von Deutschland wäre die Kritik wohl jedenfalls nicht so laut ausgefallen. Vielleicht war das Glück, das Team Deutschland zuvor durchaus hatte (und brauchte), eben aufgebraucht.
Von “Scheitern” würde ich nicht reden – irgendwann ist eben Schluss im Turnier, und Ansprüche wie vielleicht bei den Fussballern (“mindestens Halbfinale”?) sind eben nicht berechtigt. Deutschland hat mehr erreicht als z.B. England oder die Niederlande, Frankreich (nur mit der dritten bis vierten Garnitur angetreten) “scheiterte” schon vor dem Turnier.
Unsere Feudal-Demokratische Struktur hat sicher viele Vorteile. Größter Nachteil ist die gemeinsame Entwickelung von Spitzensport und Kräfte bündeln. Die fehlenden 0,3 Sekunden waren sicher Pech, aber in der Vorrunde hatten wir es aus eigenen Kraft nicht mehr in der Hand und mussten auf die Mongolen hoffen. Ich würde das erneute scheitern in einem internationalen Mannschafts- Wettbewerb eher für symptomatisch halten (das ist keinesfalls als Kritik an die Spieler zu sehen die aus dem Dilemma versuchen das beste zu machen). Wie man hier auf dieser Seite mangels Diskussion und Beiträge (zu diesem Thema) feststellen kann sind Spitzensport auch nebensächlich und bringen… Weiterlesen »
[…] Mit Pähtz gegen Ungarn: 0,3 Sekunden fehlten zum Viertelfinale […]
Leute – es war “a…”knapp und das Glück war auf der Seite der Ungarn PUNKT FERTIG!!
Ärgerlich war, dass aufgrund organisatorischer Schwächen die Partie nur wenige Leute live sehen konnten…