Jörg Schulz’ letzter Arbeitstag (oder nicht?)

Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 wollten einige Mitglieder der Ost-Berliner Betriebssportgemeinschaft Motor Wilhelmsruh nicht länger in der DDR leben. Aber wie ohne Gefahr für Leib und Leben in den Westen flüchten? Die Berliner Schachfreunde organisierten einen Wettkampf mit dem Hamburger Schachklub, ein Vorwand, um nach Hamburg reisen und dort bleiben zu können. Damit der Ehemann unter den Spielern seine Ehefrau nicht zurücklassen musste, gab es beim Wettkampf ein Frauenbrett, an dem besagte Gattin zum Einsatz kam. Nachdem die Partien gespielt waren, blieb etwa die Hälfte der Schachdelegation aus Ost-Berlin im Westen.

Logo des SC Diogenes
Hamburg.

Und sie gründeten einen neuen Club, den SK Palamedes, der fast aus dem Stand zu den stärksten Hamburger Vereinen zählte. 1967 schloss sich der SK Palamedes der Schachabteilung des SC Concordia Hamburg an, aber ging darin nicht auf. Die Palamedes-Identität blieb bestehen. Das zeigte sich 1977, als die ehemaligen Palamedes-Spieler austraten, um zusammen mit der einstigen Concordia-Jugendabteilung einen eigenen Verein zu gründen, den SC Diogenes Hamburg, der sich fortan vor allem aus ehemaligen Jugendtrainern und -spielern von Concordia zusammensetzte. Der Wunsch, selbstbestimmt zu sein, war so stark, dass mancher Spieler darauf verzichtete, für den Erstligisten Concordia in der höchsten deutschen Spielklasse anzutreten.

Letzter Arbeitstag: 30. Juni 2020

Eine ähnliche Geschichte der Sehnsucht nach Selbstbestimmung wie einst Concordia und Diogenes schreiben heute die Deutsche Schachjugend und der Deutsche Schachbund. Zentraler Protagonist dieser Geschichte ist einer der Gründer (und heute Ehrenmitglied) des SC Diogenes Hamburg: Der damals 19-jährige Jörg Schulz, der über das Schulschach im Matthias-Claudius-Gymnasium zum SC Concordia geraten war.

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Jörg Schulz. | Foto: Deutsche Schachjugend

Mit der Gründung des SC Diogenes begann seine ehren- und hauptamtliche Schachlaufbahn, deren Stationen zwischen Schulschachgruppenleiter und kommissarischer DSB-Geschäftsführer kaum aufzuzählen sind. Am gestrigen Dienstag, 30. Juni, endete diese Laufbahn nach mehr als 40 Jahren. Jörg Schulz ist nicht mehr Geschäftsführer der Deutschen Schachjugend – gegen den erklärten Willen der Deutschen Schachjugend.

Buchhalter versus Berufsjugendlicher, Kontrollfreak versus Querkopf: Vom Kulturkampf in der DSB-Geschäftsstelle.

Als im November 2019 Jörg Schulz freigestellt wurde, hatten dazu auch seine einstigen Mitstreiter vom SC Diogenes eine starke Meinung, die sie unter dem Titel “Ist der Deutsche Schachbund noch zu retten?” dokumentierten. Aber Jörg Schulz arbeitete trotz Rausschmiss weiter für seine DSJ – aus einem Büro, das er auf eigene Kosten angemietet hat. Vor und hinter den Kulissen haben die Verantwortlichen der Schachjugend ihre Pendants vom DSB in den vergangenen Monaten mehrfach gedrängt, einen Weg zu finden, Schulz zu halten, damit dessen Wissen und Kontakte nicht von heute auf morgen verlorengehen.

DSB: “Zerrüttet”, DSJ: “Ohne Einschränkung intakt”

Vom DSB hat die DSJ in dieser Hinsicht keinerlei Kompromissbereitschaft empfangen. Präsident Ullrich Krauses Aussage vom “zerrütteten Vertrauensverhältnis” gilt weiterhin, ebenso wie weiterhin gilt, dass der DSB nie erklärt hat, warum das Vertrauensverhältnis zerrüttet ist. Der DSJ-Vorstand teilt derweil mit, sein Vertrauensverhältnis zu Schulz sei “ohne Einschränkung intakt”.

Am 30. Juni 2020 lief Jörg Schulz’ Vertrag aus, nun hängt er im luftleeren Raum. Eigentlich hätte die Personalie beim DSB-Kongress längst geklärt werden sollen, nur wurde dieser Kongress wegen Corona auf den 22. August verschoben. An diesem Tag, keine weitere Verschiebung vorausgesetzt, wird sich klären, ob die DSJ zu einem Verein wird, der in eigener Verantwortung entscheiden kann, wen er beschäftigt und wen nicht.

Ob es ein Gipfel inklusive Meisterschaft wird? Kann sein, kann nicht sein. Der Kongress am Rande des Schachfestes inklusive Entscheidung zur DSJ wird mit hoher Wahrscheinlichkeit stattfinden. Ob parallel die Deutsche Meisterschaft (die “Masters” heißt) und das Masters (das “Deutsche Meisterschaft” heißt) laufen, hängt davon ab, ob Corona sie möglich machen.

Zu erwarten ist eine kontroverse Debatte, bei der besagte Personalie eine zentrale Rolle spielen wird. Einerseits haben schon Landesverbände signalisiert, einem DSJ e.V. nur zuzustimmen, wenn Schulz nicht weiterbeschäftigt wird. Andererseits wird es um Geld gehen, und es mehren sich die Zeichen aus Berlin, dass dem DSB dieser Part der Debatte Sorge bereitet. Der “Fall Schulz” ist angesichts wegfallender Fördermittel für seine Stelle jetzt schon eine teure Angelegenheit – und wird noch teurer, wenn tatsächlich für die DSJ eine separate Geschäftsstelle angemietet werden muss, weil DSB-Personal nicht mit der DSJ unter einem Dach arbeiten darf. Obwohl formal daran gearbeitet wird, ist nicht abzusehen, dass die Angelegenheit vorab zur Zufriedenheit aller Beteiligten geklärt und dann nur noch durchgewunken wird.

Know-how sichern, bevor die Rente kommt

Wir haben den Pressesprecher des Schachbunds gebeten, uns den Sachstand im Fall Schulz mitzuteilen. Eine Antwort haben wir nicht bekommen. Den DSJ -Referenten für Öffentlichkeitsarbeit haben wir um dasselbe gebeten. Die Antwort:

Der DSB und wir, die DSJ, halten am Vorhaben fest, die DSJ in einen e.V. umzugründen. Derzeit bereiten Vertreter von DSB und DSJ die nötigen Satzungsanträge vor. Auch die Landesverbände und Landesschachjugenden sind in die Vorberatungen einbezogen. Nach derzeitigem Plan soll ein außerordentlicher DSB-Kongress am 22. August über die Umgründung beraten und entscheiden; der bereits für den 9. Mai geplante Kongress konnte coronabedingt nicht stattfinden. Die Anträge werden einige Wochen vor dem Kongress veröffentlicht.

Wenn die Umgründung der DSJ in einen e.V. geschieht, werden wir selbst Personalverantwortung tragen. Auf der Jugendversammlung im März haben wir daher bereits vorbereitend ein »Personalkonzept 2030« skizziert. Teil des Konzeptes ist es, Jörg Schulz weiter als DSJ-Geschäftsführenden zu beschäftigen. Zum einen ist das Vertrauensverhältnis zwischen DSJ-Vorstand und Jörg Schulz weiterhin ohne Einschränkung intakt. Zum anderen ist es Ziel der langfristigen Personalentwicklung, das Know-how (Fachwissen und Netzwerk) des bisherigen DSJ-Geschäftsführenden für die DSJ zu erhalten. Mit Blick auf das nahende Rentenalter von Jörg Schulz soll sein Know-How gesichert und rechtzeitig auf eine*n Nachfolger*in übertragen werden. Die DSJ-Jugendversammlung hat diesem Rahmenkonzept bei wenigen Enthaltungen zugestimmt. Der DSJ-Vorstand wird das Konzept konkretisieren, sobald über die Umgründung entschieden ist.

Nun müssen wir abwarten und Schach spielen, bis über die “Umgründung” entschieden ist. Das gilt auch für die Mitglieder des im Lauf der Jahrzehnte etwas geschrumpften, aber immer noch quicklebendigen SC Diogenes, der in der ersten Runde der DSOL in der Liga 1B auf den SK Ettlingen traf.

Am vierten Brett bekam Hamburgs Robert Buchholz unerwartet einen Elfmeter aufgelegt.

Buchholz, Robert (1944) – Schwingen, Dominik (1924)
DSOL Liga 1B, SC Diogenes – SK Ettlingen

Weiß am Zug gewinnt.
(Du willst lösen? Klick aufs Brett.)

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acepoint
acepoint
3 Jahre zuvor

Warum eigentlich haben Artikel und viele Kommentare hier – und in einigen anderen Artikeln bei den Perlen, die sich kritisch mit der Arbeit des DSB auseinandersetzen – so viele Downvotes, aber man liest so gut wie keine kontroversen Meinungsäußerungen, Argumente oder Richtigstellungen der Menschen, die Artikel und Kommentare schlecht bewerten? Bezeichnend ist der Kommentarthread in https://perlenvombodensee.de/2020/06/03/henning-geibel-und-die-schachverwaltung/ mit Michael Langer.

Ok, wahrscheinlich eine eher rhetorische Frage…

acepoint
acepoint
3 Jahre zuvor

«Wir haben den Pressesprecher des Schachbunds gebeten, uns den Sachstand im Fall Schulz mitzuteilen. Eine Antwort haben wir nicht bekommen.»

Diese offenbar mit System getätigten und wiederholten Nichtreaktionen – man könnte ja wenigstens mal sagen, dass man nichts zu sagen hat – haben schon Geschmäckle. Und sind nicht gerade dazu angetan, das Vertrauen in den DSB bzw. all die Funktionäre auf Bundes- und Länderebene zu stärken.

Das wenigstens kann man konstatieren, ohne – wie wahrscheinlich die meisten – den Sachverhalt zu kennen.

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