Die Gretchenfrage: Kann Online-Schach das Cheating überwinden?

Von den sechs Erstplatzierten der Online-Europameisterschaft in der Kategorie 1400-1700 sind fünf nachträglich disqualifiziert worden. Nach Einschätzung von chess.com und des ausrichtenden Europäischen Schachverbands ECU haben sie betrogen. Insgesamt sind in allen Kategorien sogar mehr als 80 EM-Teilnehmer disqualifiziert worden, in erster Linie solche in den Kinder- und Jugendwettbewerben.

Endstand der U1700-Online-EM. FIDE-Meister gerieten ins Feld, weil die ECU den Schnellschach-Elo heranzog, um die Teilnehmer den Kategorien zuzuordnen.

Zu erwarten war vor dieser Mammut-Online-Veranstaltung, dass eine Reihe von Teilnehmern nicht fair spielen wird. Zu erwarten war auch, dass sie aussortiert werden. Und so kam es. Das Ergebnis wirft ein Schlaglicht auf die größte gegenwärtige Herausforderung des Schachs: Online-Cheating. Wie verhindern wir es? Wir ahnden wir es? Weiten wir Strafen für Online-Betrug auf den regulären Spielbetrieb aus? Wie stellt sich das rechtlich dar?

Weil Schach von Angesicht zu Angesicht auf absehbare Zeit nicht wieder so sein wird, wie es war, verlagert es sich mehr und mehr ins Netz. Das schließt Alternativen zum regulären Spielbetrieb und Partien mit längerer Bedenkzeit ein – obwohl gerade die besonders anfällig für erfolgreiche Betrugsversuche sind. Lösungen müssen her.

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“Ein Riesenthema”

Die ECU wird die fünf überführten EM-Teilnehmer jetzt für zwei Jahre sperren. Wir haben bei der ECU angefragt, ob sich diese Sperre auf Online-Turniere der ECU beschränkt oder auf den Offline-Spielbetrieb ausgeweitet werden soll. “Vorerst nur online”, war die Antwort. Aber eine Ausweitung der Sperren für Online-Cheating sei Gegenstand der Diskussion.

“Ein Riesenthema, das mich Woche für Woche dutzende Stunden beschäftigt”, teilt FIDE-Generaldirektor Emil Sutovsky mit. Die FIDE hat unter anderem ihre Online-Olympiade in der Pipeline, und bevor die beginnt, müssen Regeln und Mechanismen her. Im Sommer, hofft Sutovsky, soll ein System entstanden sein, dass relevante Wettbewerbe nicht nur für des Cheatings unverdächtige Weltklassespieler im Internet möglich macht. “Wir leisten in dieser Hinsicht auch die Vorarbeit für die nationalen Verbände”, schreibt Sutovsky auf Facebook.

Ein Faktor ist die Rechtssicherheit von Sperren, die Online-Anbieter verhängen, Neuland. Wer bei einem DSB/ChessBase-Turnier mitspielt, liest in der Ausschreibung: Kommt der Turnierleiter … zu der Überzeugung, dass mit Hilfe einer Engine gespielt wurde, so entscheidet er über einen Ausschluss aus dem Turnier. Diese Entscheidung ist endgültig.« Unlängst hat unser Autor Thorsten Cmiel festgestellt, dass so ein Passus nicht viel mehr als ein Feigenblatt ist und rechtlich nichts wert. Das würde sich offenbaren, sobald jemand dagegen vorgeht.

“Weitreichendere” Sanktionen

Chess.com mit seinem vielköpfigen Anti-Cheating-Stab hat nach eigenen Angaben unlängst einen Durchbruch beim Erkennen von Betrügern erzielt. Jetzt macht das Unternehmen eine viel klarere Ansage als ChessBase, eine offensive nämlich: “Bring it on!” (etwa: “Nur her damit”), sagte unlängst chess.com-Chef Daniel Rensch, als er dem Cheating-Komplex ein ausführliches Video auf Youtube widmete. Wenn seine Firma jemanden sperre, dann nur unter Voraussetzungen, die ihn optimistisch in jedes rechtliche Verfahren gehen ließen. Für manche Wettbewerbe hat chess.com den Teilnehmern jetzt abverlangt, während der Partie eine zweite Kamera auf Tastatur/Bildschirm auszurichten und jederzeit per WhatsApp oder Zoom erreichbar zu sein.

Während die FIDE noch Vorarbeitet leistet, hat in den nationalen Verbänden schon die konkrete Gedankenarbeit hinsichtlich Sanktionen begonnen. In Großbritannien gab es dafür einen Aufhänger, weil dort die offizielle “Four Nations League” (4NCL) schon im April online ging – und natürlich bald einen ersten Cheating-Fall beklagte. Dem Vernehmen nach bestehen beim englischen Verband erhebliche rechtliche Bedenken, Online-Sperren in den Offline-Spielbetrieb zu übernehmen.

In Österreich mag das anders sein. In der Vorrunde der Österreichischen Internetmeisterschaft wurde ein Spieler überführt, weil er mit erstaunlicher Genauigkeit agierte und während seiner Partien mehrfach in einem anderen geöffneten Fenster tätig war. Der Spieler wurde vom Turnier ausgeschlossen, und ÖSB-General Walter Kastner teilte per Rundschreiben an seine Funktionäre mit, es werde nun ein Regulativ ausgearbeitet, “wonach solches Verhalten auch weitreichendere Konsequenzen haben wird”.

In Deutschland soll auf playchess demnächst eine an die 4NCL angelehnte Vereinsliga mit längerer Bedenkzeit beginnen, die Deutsche Schach-Online-Liga (DSOL). Wir haben schon am 2. Mai beim Pressesprecher des Deutschen Schachbunds gefragt, ob in Deutschland eine Debatte in Sachen Cheating/Sanktionen angestrebt wird. Eine Antwort haben wir nicht bekommen. Wir haben auch beim Pressesprecher des Schachbunds angefragt, ob es womöglich schon Konzepte oder Ideen gibt, mit Cheating umzugehen – eine Frage, die angesichts des nun in den Startlöchern stehenden deutschen Online-Spielbetriebs drängend erscheint.

Eine Antwort haben wir nicht bekommen.


Wer zum Cheating-Komplex Fragen stellen und Antworten bekommen möchte, sollte dieses Webinar am kommenden Dienstag nicht verpassen:

Veranstalter ChessTech hat ein illustres Feld von Sprechern und Diskutanten zusammengetrommelt, darunter Cheating-Experte Professor Kenneth Regan, ChessBase-Turnierleiter Martin Fischer oder Lichess-Administrator Theophilus Wait. Für Abonnenten des ChessTech-Newsletters ist die Teilnahme kostenlos.

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Gerald Fix
Gerald Fix
3 Jahre zuvor

Letztendlich kann ich die Engine auf einem Laptop laufen lassen. Dann spielen geöffnete Fenster keine Rolle. Bei schwächeren Spielern kann auch ein stärkerer danebensitzen, was bei Mannschaftskämpfen zweifellos eine Rolle spielen wird. Und ich muss nicht mal die Engine laufen lassen: Eine Eröffnungsdatenbank (oder mein Buch über Turmendspiele usw.) wird, so nehme ich an, meine DWZ-Zahl wesentlich erhöhen. Wenn ich mit DWZ 1600 betrügen möchte, dann würde ich so vorgehen: Eine Eröffnungsdatenbank und später die Engine zur Fehlerabsicherung, nicht um grandiose Züge zu finden. Dabei kann ich vielen Stellungen ruhig auch mal den zweit- oder viertbesten Zug wählen. Wer soll… Weiterlesen »

Florian Pantleon
Florian Pantleon
3 Jahre zuvor

Das benützen einer Engine während eines Schachspieles ist meiner Meinung nach schlimmer als Doping. Beim Doping bring ich Leistung und verbessere diese auf unlauterem Wege. Nutze ich eine Engine bringe ich nicht einmal diese Leistung. Daher bin ich für Strafen die das auch reflektieren.
Betrug hat in diesem Sport nichts zu suchen.
 
Wobei ich ehrlich gesagt das ganze nicht verstehe. Ich weiß, dass mein Gegner schlechter als Stockfisch ist. Ich will aber wissen ob ich besser bin als er.

Awe
Awe
3 Jahre zuvor

Das cheaten beim online Schach spielen, ist so sicher wie das Amen in der Kirche, es bleibt beim Lippenbekenntnis der Onlineschachanbieter. Daher macht es wenig Sinn irgendwelche Abos abzuschließen. Zum trainieren mögen diese Schachseiten gut sein, aber um ein reales Ranking zu erhalten taugt keine Seite etwas. Daher macht es keinen Sinn Beiträge bei Chess.com und Co. zu zahlen. Das Problem wird wohl nie gelöst werden.

Heinrich Siggelkow
Heinrich Siggelkow
2 Jahre zuvor

Online Schach ist tot, fast schon die ganze Jugend betrügt beim online Schach. Das ist echt traurig aber mich wundert es auch nicht mehr. Ich finde es nur heftig viele, wenn gleich 80 Teilnehmer überführt werden konnten und darunter sogar die ersten 5 “Gewinner des Turniers”. Die neue Schach Jugend ist wohl schon total verhunzt und kennen gar keine Grenzen mehr, wissen nicht was recht und unrecht ist aber dafür was links ist. Man fragt sich auch ob deren Eltern überhaupt noch den Wert von Tugenden, Ehrlichkeit und echtem Fleiß vermittelt haben. Ohne eine härtere Gangart der FIDE gegen Betrüger… Weiterlesen »

Last edited 2 Jahre zuvor by Heinrich Siggelkow