Ist Schach gelöst? Und wenn nein, wie lange dauert das noch?

Nein, das Schachspiel wurde bislang noch nicht von einem Computerprogramm vollständig gelöst. Im Vergleich zum bereits gelösten Mühlespiel, einem anderen Spiel mit „perfekter Information“, gibt es beim Schach viel mehr mögliche Stellungen (geschätzt rund 1043). Die heute verfügbare Rechen- und Speicherkapazität reicht bei weitem nicht aus, unserem guten, alten Spiel alle Geheimnisse zu entlocken.

Ergebnisse für alle Materialverteilungen bis zu sieben Steinen sind tatsächlich berechnet worden und in Endspieldatenbanken (sogenannten Tablebases) verfügbar. Stehen nur noch sieben Steine auf dem Brett, spielen die Tablebases perfekt. Unter anderem auf Lichess kann jeder damit trainieren und analysieren.

Als im August 2018 der Siebensteiner bei Lichess online ging, haben wir dem einen ausführlichen Beitrag gewidmet.

Nach derzeitigem Wissensstand ist selbst der 8-Steiner noch weit entfernt, vom 32-Steiner ganz zu schweigen. Mit jeder zusätzlichen Figur potenziert sich der erforderliche Rechenaufwand.

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Das Entstehen der Tablebases, vom Vier- über den Fünf- und Sechs- bis zum Siebensteiner hat unser Verständnis manchen Endspiels umgekrempelt, manche Bewertung geändert, manchen Zweifel beseitigt. Dank der Tablebases erschienen sogar noch in den 2010er-Jahren fundamentale Werke über Schachendspiele.

Der führende Endspielexperte der Welt ist ein Deutscher, der Hamburger Großmeister Karsten Müller. Mit Frank Lamprecht hat Müller das 2014 Standardwerk zu Endspielen veröffentlicht: “Fundamental Chess Endings“. Ohne Tablebases hätte nicht einmal eine Kapazität wie Müller ein solches Werk verfassen können, schon gar nicht fehlerfrei.

Ob uns der 32-Steiner für immer verwehrt bleibt? Nachdem Google-Forscher Ende 2019 erstmals die so genannte Quantenüberlegenheit demonstriert hatten, kursiert nun in Fachforen das Gerücht, chinesische Wissenschaftler stünden kurz davor, einen ersten Quantencomputer in Betrieb zu nehmen, der gängigen Supercomputern um ein Vielfaches überlegen ist.

Traditionell benutzen Computerforscher Schach als Probierstein, siehe Deep Blue, siehe AlphaZero. Wer weiß, womöglich setzen auch die Chinesen ihre Maschine auf unser gutes, altes Schachspiel an? Allemal wird Schach in China immer populärer.

Wie sollte der Mensch vom 32-Steiner profitieren?

Wie das chinesische Experiment im Erfolgsfall ausgeht, können wir jetzt schon prognostizieren: Theoretisch ist Schach remis. Selbst wenn diese Annahme bewiesen würde, hätte das wahrscheinlich wenig Auswirkungen auf das praktische Spiel. Wäre Schach gelöst, wie sollte der Mensch vom 32-Steiner profitieren, wie dem Daten-Ungetüm Strategien entlocken?

Schon heute müssen es selbst die besten Schachmeister hinnehmen, wenn ihnen die Tablebases im Endspiel verkünden, auf dem Brett stehe ein Matt in 243 Zügen. Der beste Weg zum Matt und die beste Verteidigung lassen sich mit den kümmerlichen Neuronenrechnern in unseren Schädeln nicht nachvollziehen.


Unter seinem Pseudonym „Nathan Rihm“ hat Martin Hahn bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht. Mehr über ihn auf der Nathan-Rihm-Fanpage bei Facebook. Kontakt: nathanrihm@gmx.de

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[…] zwei überzählige Klötze auf dem Brett – Endspieldatenbanken funktionieren erst ab sieben Steinen oder weniger. […]

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10 Monate zuvor

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