DER SPIEGEL und sein Schach-Experiment: “Überwältigender Erfolg.”

Die geraden Jahre sind Schachjahre: Kandidatenturnier, Schach-Olympiade, WM-Match. Seit einiger Zeit serviert die Redaktion von SPIEGEL ONLINE zu solchen Anlässen ihren Lesern das ganz große Schachgedeck. 2020 wird DER SPIEGEL diese Tradition fortsetzen – und uns auch zwischen den Großereignissen immer wieder Schachhäppchen servieren.

Lukas Rilke (39), Ressortleiter Sport beim SPIEGEL, wird seinen Lesern spätestens zum Kandidatenturnier Anfang 2020 in Jekaterinenburg wieder das große Schachgedeck servieren. (Foto: Jeannette Corbeau)

Warum ausgerechnet Schach? Wir haben mit SPIEGEL-Sportchef Lukas Rilke darüber gesprochen, warum ein altes Brettspiel so attraktiv für seine Berichterstattung ist, warum seine Leser davon mehr wollen als von anderen, vermeintlich moderneren Sportarten.

Schach ist ja weder schnell noch bunt noch laut? “Eben”, sagt Rilke und erklärt, wie das im gedruckten Heft traditionell prominent gespielte Schachthema seinen Weg in die Online-Berichterstattung eines der größten deutschsprachigen Nachrichtenportale gefunden hat.

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Das Feld ist bereitet: So sah es aus, als DER SPIEGEL Magnus Carlsen zum Simultan nach Hamburg eingeladen hatte. (Foto: DER SPIEGEL/Twitter)

Der gedruckte SPIEGEL hat früher regelmäßig und ausführlich über Schach berichtet. SPIEGEL ONLINE setzt diese Tradition fort. Warum?

Tatsächlich hat sich die Berichterstattung online teilweise aus der im gedruckten SPIEGEL ergeben. Anfangs haben der eine oder andere Kollege vom Heft und freie Autoren auch für die Website geschrieben. Trotzdem hat Schach bei SPIEGEL ONLINE bis vor einigen Jahren keine so große Rolle gespielt wie jetzt.

Was hat sich geändert?

Vor der Weltmeisterschaft 2013 fiel uns ein fesselndes Carlsen-Porträt in englischsprachigen Medien auf, außerdem kannte ein Kollege einen Carlsen-Dokumentarfilm. „Spannender Typ“, haben wir gedacht und beschlossen, Schach zur WM mehr Raum zu geben als sonst. Vor allem die damaligen Ressortleiter Christian Gödecke und Mike Glindmeier haben diesen Versuch vorangetrieben. Und wenn wir schon etwas groß machen, dann richtig: Analysen von Experten, Porträts, Vorberichterstattung, das volle Programm. Schach sollte ein Schwerpunkt werden und wir die Online-Seite, die darüber am besten und am fundiertesten berichtet. Zusammen mit ChessBase haben wir zum Beispiel den Schach-Live-Ticker entwickelt. Einen Ticker kannten unsere Leser bis dahin nur von anderen Sportarten.

All das nur, weil Magnus Carlsen ein spannender Typ ist?

Das Mozart-Etikett wird Magnus Carlsen wahrscheinlich erst loswerden, wenn die nächste Carlsen-Doku uns Kino kommt.

Schach passt auch gut zu unserem Haus. Über die Schachtradition beim gedruckten SPIEGEL haben wir ja schon gesprochen. Wir haben außerdem angenommen, dass Schach unsere Leser interessiert. Schachtexte hatten immer gut funktioniert, besser als Texte über andere kleinere Sportarten. Nun wollten wir diese geheimnisvolle Szene einfach mal ausleuchten, die genialischen Figuren zeigen, die sich darin bewegen. Wir haben vermutet, dass da Potenzial ist, aber letztlich wussten wir natürlich nicht, ob das funktionieren würde.

Und?

Der Erfolg war überwältigend. Während des WM-Matches 2013 haben wir viel mehr Klicks gezählt, als wir erwartet hatten. Dazu die Resonanz: Wir haben viel Post bekommen, erfreuliche Rückmeldungen, und in der Szene sprach sich herum, was wir machen. Das wiederum hat unserem Team Freude bereitet: Wir hatten etwas kreiert, das ankam. Auf diesem Erfolg gründet die neue Tradition unserer Schachberichterstattung.

Schach als Klickbringer.

Diesen Aspekt muss ich aus heutiger Sicht relativieren. 2013 waren Klicks die härteste Währung im Online-Journalismus. Ein Schach-Live-Ticker generiert sehr, sehr viele davon, wenn die Leute Züge vor- und zurückspielen. Heute sind Klicks immer noch wichtig, vor allem im Zusammenhang mit dem Anzeigengeschäft, aber in der Redaktion schauen wir eher auf Besucherzahlen und Verweildauer. Mich interessiert vor allem, wie viele Leute eine journalistische Form angeschaut und ob sie einen Text bis zum Ende gelesen haben. Schach funktioniert auch in dieser Hinsicht sehr gut.

Tschüs, Leser, übermorgen sehen wir uns wieder: Oliver Reeh beendet die Berichterstattung des Live-Tickers anlässlich des Superturniers in Stavanger 2017. Der Ticker ist und bleibt ein fester Bestandteil des SPIEGEL-ONLINE-Schachangebots.

Ihr Erfolgsmodell „Live-Ticker“ kennen wir in der Schach-Szene noch aus der Internet-Steinzeit. Anfangs haben Großmeister ihre Kommentare zum Geschehen live eingetippt. Dann stiegen die Bandbreiten, und das Zeitalter der Live-Streams begann. Heute gibt es zu jedem Spitzenturnier einen, oft mehrere Streams. Zunehmend sehen wir mit hohem Aufwand produziertes, mehrstündiges Schach-TV, Ticker gibt es gar nicht mehr. Aber SPIEGEL ONLINE setzt weiter darauf?

Der Ticker hat einen festen Platz in unserer Berichterstattung. Das hängt damit zusammen, wie SPIEGEL ONLINE genutzt wird: von Menschen im Büro oder Menschen unterwegs, die immer mal wieder für kurze Zeit reinschauen. Niemand besucht unsere Seite mit der Absicht, für mehrere Stunden einen Schach-Stream zu schauen. Für uns ist der Ticker das passendere Modell: Man muss nicht stundenlang dranbleiben, braucht keine Kopfhörer oder dergleichen. Viele Schach-Fans öffnen zu Beginn der Partie unseren Live-Ticker. Der bleibt dann stundenlang geöffnet, und der Besucher schaut immer mal wieder rein.

Würden Sie auch Schach machen, wenn es keinen Carlsen gäbe? Oder anders: Braucht eine Randsportart einen Superstar, um für Sie interessant zu sein?

Nicht unbedingt. Magnus Carlsen macht natürlich den Einstieg einfacher. Viele unserer Leser kennen ihn, er hat einen hohen Wiedererkennungswert. Andererseits stellen wir unabhängig von der Sportart immer wieder fest, dass wir Leser fesseln können, indem wir Nähe zu einer spannenden Figur herstellen, die sie bis dahin nicht kannten. An der Stelle sind wir wieder bei der Expertise des Autors. Ein Carlsen-Porträt könnten viele Kollegen schreiben, aber um Nähe zu jemandem herzustellen, der nicht oder noch nicht im Rampenlicht steht, bedarf es eines Autors mit Expertenwissen. Mit Florian Pütz haben wir jemanden, der sich auskennt, der Schach mit Interesse verfolgt. Das tut unserer Berichterstattung gut.

SPIEGEL-Schachschreiber Florian Pütz (rechts) beim Grand Prix in Hamburg im Gespräch mit World-Chess-Chef Ilya Merenzon. (Foto: World Chess)

Sie sind Sportexperte, aber sagen, Sie seien „kein großer Schachexperte“. Kennen Sie einen deutschen Schachspieler, der nicht Keymer heißt?

Ähm… (überlegt)

Fühlen Sie sich bitte nicht vorgeführt. Nach meinem Empfinden sieht im deutschen Schach kaum jemand die Notwendigkeit, Figuren zu produzieren, deren Geschichten zu erzählen jemandem wie Ihnen attraktiv erscheint. Ich würde gerne herausfinden, was vom deutschen Spitzenschach in einer führenden deutschen Sportredaktion ankommt.

Schon klar. Leider bin ich sehr schlecht mit Namen. Für mich als Golfer ist „Keymer“ leicht wegen der Ähnlichkeit mit Martin Kaymer. Aber jemand anderes, hmm… (überlegt) … Luis Engel? Heißt der so?

Boah! Ich hatte „Hübner“ erwartet.

Schach nehme ich über die Arbeit wahr. Über Keymer haben wir natürlich berichtet, über Engel auch, als er der jüngste deutsche Großmeister wurde.

Kennen Sie einen deutschen Nationalspieler?

Über Keymer und Engel hinaus bin ich leider blank.

Zweitjüngster deutscher Großmeister: Luis Engel. (Foto: Niki Riga)

Was dürfen schachaffine SPIEGEL-ONLINE-Leser erwarten? Das Kandidatenturnier steht bevor, dort wird Carlsens Herausforderer ermittelt, dann der WM-Kampf.

Die vergangenen Kandidatenturniere haben wir mit Live-Ticker, Porträts, Meldungen und Analysen begleitet. Das werden wir wahrscheinlich auch 2020 machen. Das WM-Match sowieso. Abseits davon bin ich gespannt, welche Themen oder Figuren zu beleuchten Florian Pütz vorschlägt. Wir haben keine Mindestquote, die wir erfüllen wollen, aber Schachtexte zwischen all dem Fußball dienen der Mischung auf unserer Seite. Es wird sie auch geben, wenn gerade kein Kandidatenturnier oder Weltmeisterschaft ist.

Ist Schach altmodisch? Braucht es mehr Action?

Nach meiner Wahrnehmung liegt der Reiz des Schachs im Anachronistischen, in der Tradition. Ein Schachbrett ist ein Schachbrett, jeder kennt die Figuren, sehr viele Menschen zumindest die Regeln. Die Grundidee ist seit Jahrhunderten unverändert: zwei Spieler, ein Brett dazwischen, und das Spiel dauert sehr lange. Diese Wiedererkennbarkeit mögen die Leute, sehnen sich vielleicht sogar danach. Die Grundsehnsucht des Menschen, dass sich nichts verändert, erleben wir in der Redaktion ja bei Regeländerungen in anderen Sportarten. Den Videoschiedsrichter beim Fußball zum Beispiel mögen unsere Leser gar nicht.

David Bronstein – eine rote Zugmaschine? Als Schach im Oktober 1958 mal wieder den SPIEGEL-Titel enterte, mögen von dieser Seite des eisernen Vorhangs aus die Dinge anders ausgesehen haben, als sie waren.

Eine Debatte im Schach dreht sich darum, ob das Spiel schneller werden muss, damit es mehr Menschen erreicht.

Aus meiner Sicht liegt der Charme des Schachs darin, dass es über den ganzen Tag läuft. Ein Schachduell lässt sich verfolgen, indem man gelegentlich genauer reinschaut, ansonsten läuft es nebenher. Schach hat sogar etwas Meditatives, und das kommt meiner Wahrnehmung nach an. Wenn Schach nach einer halben Stunde vorbei wäre, hätte der Zuschauer Druck, pünktlich reinschauen zu müssen, um nichts zu verpassen. Aus der Sicht von SPIEGEL ONLINE kann ich Ihnen sagen, dass Schach funktioniert, wie es ist…

…hallelujah!

…?

Diejenigen, die das Spiel schneller machen wollen, sagen, dass niemand fünf, sechs Stunden lang Schach guckt. Ich glaube, dass dieses Argument am Kern der Sache vorbeigeht. Wer Schach guckt, ob im Stream, im norwegischen Fernsehen oder in Ihrem Live-Ticker, der ist stundenlang für Schach engagiert. Nicht weil er durchgehend zuschaut, sondern weil er immer mal wieder reinguckt. Dieses Alleinstellungsmerkmal unseres Sports fiele weg, wenn nur noch schnell gespielt würde. Leider fühle ich mich mit dieser Ansicht zunehmend in der Minderheit. Nun haben Sie sich als Verbündeter geoutet, jemand, der sich auskennt. Darum: hallelujah!

(Lacht) Schach-Organisatoren müssen entscheiden, was ihre Bühne sein soll. Wenn Schach Hallen füllen soll, dann müsste es wahrscheinlich schneller werden, weil niemand so lange Zeit hat. Aber wenn Schach in erster Linie so präsentiert werden soll wie bei uns, dann passt es, wie es ist.

Wenn Schach Hallen füllen soll, muss es schnell gespielt werden. So wie jetzt beim Tata Steel Chess in India. Wenn Schach in erster Linie online verfolgt werden soll, dann sollte es stundenlang dauern. (Foto: Lennart Ootes/Tata Steel Chess)
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F. O.
4 Jahre zuvor

Mir gefällt das Engagement des Autors.

acepoint
4 Jahre zuvor

Interessantes Interview, teils überraschende Antworten. Ich neige auch eher zu denen, die Schach (etwas) schneller machen wollen. Allerdings weniger bezogen auf die Topveranstaltungen, sondern weil ich glaube, dass man so vielleicht wieder mehr Jugendliche in die Vereine bekommt. Heute ist es schwer zu vermitteln, dass ein Mannschaftskampf auf Landesebene ohne Anreise schon mal 6-7 Stunden dauern kann, einer auf Bezirksebene auch oft genug mindestens vier Stunden…

Christian Jäger
4 Jahre zuvor

Ich finde es super, dass der Schachsport wieder einem großen Medienportal wie DER SPIEGEL die Beachtung finden wird, den er verdient. Schach hat eine lange Tradition und ist ein sehr spannender Denksport. In einer Zeit, in der nahezu keine Sportmehr ohne technologische Hilfsmittel auskommt, ist Schach eine willkommene Abwechslung. Hoffentlich motiviert es die jüngere Generation das Handy mal beiseite zu legen und sich an einem Schachbrett auszutoben.

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