Vladimir Kramnik – eine Karriere (III): Wiedervereinigung und Sturz vom Thron

Das langersehnte WM-Match 2006 gegen Veselin Topalow in der kalmückischen Hauptstadt Elista sollte zu einem der skandalumwobensten der Schachgeschichte werden: „Toiletgate“ machte mehr Schlagzeilen als die Partien.

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Weite Teile des WM-Matches 2006 zwischen Veselin Topalow und Vladimir Kramnik spielten sich abseits des Brettes ab. Kramniks damaliger Manager Carsten Hensel (oben rechts) hat unter anderem die Begleitumstände des Matches in Elista in seiner 2018 erschienenen Kramnik-Biografie verarbeitet (siehe weiter unten). (Collage: chessgames.com)

Die Toilettendebatte begann, als nach vier Partien beim Stande von 3:1 für Kramnik Topalows Manager Silvio Danailow dagegen protestierte, dass Kramnik seiner Beobachtung nach auffällig häufig die Toilette benutzt. Damit suggerierte er, Kramnik bediene sich auf der Toilette technischer Hilfsmittel. Topalow verweigerte Kramnik fortan den Händedruck vor der Partie (das tut er bis heute).

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Ein vermeintliches Beweisfoto, das während des Matches auf Topalow-Fanseiten auftauchte. Ob sich Kramnik die verdächtigen Kabel ins Ohr gesteckt und an sein Gehirn angeschlossen hat?

Schließlich trafen Funktionäre die Entscheidung, die separaten Spielertoiletten zu schließen und beiden Spielern stattdessen eine gemeinsame Toilette anzubieten, die sie nur in Schiedsrichterbegleitung aufsuchen dürfen. Gegen diese seiner Meinung nach parteiische Entscheidung wiederum protestierte Kramnik, der sich weigerte, zur fünften Partie anzutreten, würde nicht das Match zu den Bedingungen weitergespielt, auf die sich zuvor beide Partien geeinigt hätten. Und so verlor Kramnik die fünfte Partie kampflos, bestand aber weiterhin darauf, dass der ursprüngliche Vertrag eingehalten wird.

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Wiedervereinigung der Schachwelt

Nach langen Debatten ging das vor dem Abbruch stehende Match weiter, bis es nach zwölf Partien (inklusive der fünften) 6:6 stand, auch das ein Stand, den Kramnik nicht anerkannte, weil er die kampflose Niederlage in Partie fünf weiterhin nicht akzeptierte. Aber als Kramnik schließlich den Tiebreak mit 2,5:1,5 gewann, spielte das keine Rolle mehr. Vladimir Kramnik war der neue, einzige Schachweltmeister.  Damit war die Schachwelt vereinigt, aber Topalow und Kramnik geschiedene Leute.

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Nein, Deutschland ist 2008 nicht Schachweltmeister geworden, auch wenn die Beschriftung von Vishy Anands Trophäe das nahelegt. (Foto: Wikipedia)

Schon 2005 hatte die FIDE beschlossen, dass die WM 2007 wieder als Turnier gespielt werden soll. Kramnik bekam zugesichert, er würde 2008 ein WM-Match gegen den Sieger spielen, sollte er das WM-Turnier nicht gewinnen. Diese Zusage akzeptierte er und erklärte sich bereit, teilzunehmen und den Sieger des doppelrundigen Turniers als Weltmeister anzuerkennen. Und dieser Sieger wurde Viswanathan Anand, der beide Partien gegen Kramnik remisierte, aber bei „plus vier“ aufschlug, während Kramnik mit „plus zwei“ Zweiter wurde.

Das WM-Match 2008 in Bonn begann für Kramnik mit einem Fehlstart. Von den ersten sechs Partien verlor er drei, zwei davon mit Weiß in der Meraner Variante des Halbslawischen gegen die exzellente Vorbereitung Viswanathan Anands. Kramnik fing sich, fand zu seiner Form, landete gar noch einen Kurzsieg, aber in einem auf zwölf Partien beschnittenen Schachmatch lässt sich ein 0:3 kaum aufholen. Beim Stand von 4,5:6,5 war das Match beendet, Weltmeister Anand hatte seinen Turniersieg vom Vorjahr bestätigt, und Kramnik sollte nie wieder ein WM-Match spielen.

Vladimir Kramnik (2772) – Viswanathan Anand (2783)
World Championship Match Bonn GER (10), 27.10.2008

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26. Tab1

Verhindert, dass Schwarz eine Figur auf c4 einpflanzt und plant obendrein, per a4-a5 den Sb6 zu vertreiben und dann auf der siebten Reihe einzudringen. Schwarz balanciert schon am Abgrund. Sollte der a7-Bauer umfallen, ist es vorbei.

26…c4

[26…Sc4 27.Tb7+–; 26…Lc4 27.Lxc4 Dxc4 28.Txb6!+–]

27.a5 Sa4 28.Tb7 De8 29.Dd6

und aufgegeben.

1–0

Zumindest ein Kurzsieg fürs Ego 2008 gegen Viswanathan Anand. Nach 26.Tab1 (26.Teb1 geht auch) findet Schwarz keinen Weg, das Feld c4 zu besetzen. Weiß lässt seinen a-Bauern vorpreschen, dann kollabiert der schwarze Damenflügel, während Weiß auf der siebten Reihe tödlich eindringt. Aber dieser hübsche Sieg kam zu spät, ein Drei-Punkte-Rückstand ließ sich nicht wettmachen.

„Den Titel zurückholen“ formulierte Kramnik nach dem verlorenen Match in Bonn mehrfach als sein schachliches Hauptanliegen. In die Nähe eines WM-Matches sollte er durchaus noch kommen, aber nicht mehr bis ganz dahin – zumindest als Spieler.

2010, 15 Jahre nachdem er in New York Kasparow gegen Anand sekundierte hatte, schloss sich Kramnik nun dem Team seines indischen „Freundes und Vertrauten“ an. Anand hatte seinen Titel gegen Veselin Topalow zu verteidigen, und wenn es gegen den geht, muss niemand Kramnik lange bitten. Für eine Gelegenheit, Topalow zu besiegen, spielte Kramnik gerne die zweite Geige als Helfer Viswanathans Anands, der den Bulgaren 6,5:5,5 besiegte.

Kandidatenturnier 2013: Kramnik oder Carlsen?

2013 wollte Kramnik den ersten Schritt machen, um wieder selbst den Thron zu besteigen, nur stand ihm beim Kandidatenturnier in London jemand Außergewöhnliches im Weg: ein junger Norweger namens Magnus Carlsen mit seinem gewaltigen Elo von 2.872, der ihn bei seinem ersten Anlauf in Richtung WM-Titel schon zum klaren Favoriten machte. Aber ein Favorit mit flatternden Nerven, der es bis zur letzten Runde nicht vermochte, sich vom Feld abzusetzen. Stattdessen lag Carlsen gleichauf mit Kramnik an der Spitze des Feldes, 1,5 Punkte vor dem Rest.

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Hätte Kramnik geahnt, dass Magnus Carlsen in der letzten Runde des Kandidatenturniers 2013 gegen Peter Svidler verliert, er hätte nicht so viel Risiko genommen, einen halben Punkt eingefahren und einige Monate später ein WM-Match gespielt.

Nur Kramnik oder der nach Wertung führende Carlsen würde das Kandidatenturnier gewinnen können, abhängig vom Ergebnis der letzten Partie. Weil Kramnik einen halben Punkt mehr brauchte als Carlsen, legte er seine Schwarzpartie gegen den bis dahin außer Form spielenden Wassili Iwantschuk riskant an. Er wusste ja, dass nebenan Carlsen mit Weiß kaum gegen Peter Svidler verlieren würde, also musste ein Sieg her. Doch das Risiko zahlte sich nicht aus. Kramnik bekam bald Probleme, diese nicht in den Griff und stand schließlich auf Verlust.

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Carsten Hensel hat Vladimir Kramniks Karriere über Jahre begleitet und mitgestaltet. Was er dabei erlebt hat, lässt sich in diesem Buch nachlesen.

Carlsen hingegen holte nichts aus der Eröffnung heraus, geriet in Zeitnot und sah sich schließlich einem Angriff gegenüber, der sich nur unter erheblichen Zugeständnissen abwehren ließ. Svidler wickelte in ein gewonnenes Endspiel ab, das er sicher gewann.

Kramnik sah es mit Entsetzen. Ein halber Punkt nur, und er wäre WM-Herausforderer, aber vor ihm auf dem Brett stand eine verlorene Stellung, in der sich selbst der unberechenbare Iwantschuk keinen Kurzschluss mehr erlauben würde. Kramnik gab auf, Carlsen spielte gegen Anand um den Titel.

Als im März 2016 das Kandidatenturnier begann, war Vladimir Kramnik die Nummer zwei der Welt – und nicht qualifiziert. Sein Durchschnittsrating in der Periode zuvor war nicht hoch genug gewesen, um per hoher Elozahl ins Kandidatenturnier zu rutschen. 2016 war sogar das Jahr, in dem Kramnik seinen höchsten Elo jemals erreichte, 2.817. Gleichwohl bedurfte es 2018 eines Ausrichterfreiplatzes, um wieder WM-Kandidat zu werden.

Berlin 2018: die entscheidende Schlacht gegen Caruana

In Berlin, einem Turnier ohne Favoriten, zeigte Kramnik zu Beginn, dass mit ihm zu rechnen ist. 2,5 Punkte hatte der älteste Spieler im Feld nach den ersten drei Runden gesammelt, und es hieß, der Routinier wolle es noch einmal wissen. Besonders der mit Leichtigkeit vorgetragene und einem bemerkenswerten Angriffskonzept gewürzte Schwarzsieg über Levon Aronian beeindruckte Zuschauer, auch zuschauende Schachprofis.

Dann die schicksalhafte Partie gegen Fabiano Caruana, der Knackpunkt seiner Karriere. Symmetrie in einer damenlosen russischen Stellung interessierten Kramnik nicht, er suchte nach Siegchancen in einer scheinbar flachen Position, die tatsächlich in ein dramatisches Endspiel mündete, das Kramnik durchaus hätte gewinnen können. Aber am Ende einer gut sechsstündigen Schlacht triumphierte der Amerikaner und lag nun selbst in Führung, während Kramnik erschöpft in sich zusammensank. Danach hatte er keine Hoffnung mehr, ein WM-Match gegen Magnus Carlsen zu spielen. Zur Revanche für das Kandidatenturnier 2013 würde es nicht kommen.

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Der Anfang vom Ende: Als Vladimir Kramnik sich 2018 in Berlin nach einer sechsstündigen, hin- und herwogenden Schlacht geschlagen gab, war klar, dass er nicht wieder nach der Krone greifen würde.  (Foto: Worldchess)

Diese Viertrundenpartie gegen Caruana markiert den Beginn des Endes von Vladimir Kramniks Karriere als Schachprofi, den Punkt, ab dem er in erster Linie Spektakel suchte, weniger den Partiesieg, den er trotzdem noch oft geholt hat. Schon während des Kandidatenturniers prägten Kommentatoren den Terminus vom „drunk machine gunner“. Wie ein solcher spiele Kramnik, hieß es: Mal mäht er alles und jeden um, mal geht der Schuss nach hinten los. Aus dem Superstrategen, der schon als Kind Karpow nacheiferte, war ein übermütiger Abenteurer geworden.

„Ich bin ein alter Mann, Ergebnisse sind nicht wichtig, ich will nur ein bisschen Spaß haben“, sagte Kramnik noch während des Turniers in Wijk an Zee, als er schon wusste, dass er bald seinen Rücktritt verkünden würde. Eines dieser vogelwilden Turniere wollte er noch hinlegen, noch ein paar Leute ummähen, bevor Schluss ist.

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Blick zurück und nach vorn: Vladimir Kramnik will dem Schach als Förderer erhalten bleiben, vielleicht gelegentlich beim Schnellschach ein bisschen Spaß haben. Das Turnierschach wird fortan ohne ihn auskommen müssen. (Foto: Tata Steel Chess/Alina l’Ami)
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