Kinder, lernt die Koordinaten!

Schachunkundige zu beeindrucken, ist ganz leicht. Spiele eine Partie blind oder gar zwei simultan, und sie werden glauben, Du seist mit einer kaum fassbaren Neuronenpower unter Deiner Schädeldecke gesegnet. Wir müssen ihnen ja nicht erklären, dass jeder halbwegs kompetente Schachjünger blind spielen kann und keinesfalls ein Brett braucht, um seiner Leidenschaft zu frönen.

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Man muss nicht Weltmeister sein, um ohne Brett Schach zu spielen.

Problematisch wird eine derartige Pseudo-Angeberei nur, wenn die Gegner eben unkundig sind und nicht mit der Notation vertraut. Dann stellt sich manchmal drei Züge später heraus, dass es auf dem Brett ganz anders steht als im Kopf des Blindspielers, weil die Gegner etwas anderes gezogen als angesagt haben.

So ein Durcheinander im Kopf und auf den Brettern ergab sich bei uns neulich am Ende des Jugendtrainings. Früher (als bekanntlich alles besser war) wäre das nicht passiert. Seinerzeit kauften Eltern ihrem schachinteressierten Kind als erstes ein Schachbuch für Einsteiger, und das Kind las mit Begeisterung, hangelte sich von Diagramm zu Diagramm und lernte nebenbei automatisch – genau, die Koordinaten.

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Heute sind Kinder genauso schlau wie früher, aber sie lesen nicht mehr. Beim Schach führt das zu dem Problem, dass selbst vermeintlich Fortgeschrittene c4 nicht von e6 unterscheiden können, weil sie noch nie in einem Schachbuch geblättert haben.

Beim Training ist das ein Problem: Baue ihnen eine Taktikaufgabe auf, und dann wollen sie “den von da nach da” ziehen oder lieber “diesen von da nach da”, und dann ragen mit einem Mal ganz viele Kinderfinger übers Brett, die Figuren purzeln, und wir können von vorne anfangen.

Kinder, lernt die Koordinaten!

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Koordinatentraining bei Lichess.

Was Schachtrainer vor 20 Jahren nie geglaubt hätten, muss heute wohl als notwendiger Zusatz-Baustein einer substanziellen Schachausbildung betrachtet werden: separates Koordi-natentraining. Aber dafür gibt es ja zum Glück Werkzeuge, die Schachtrainern vor 20 Jahren nicht zur Verfügung standen, und deren Benutzen den Schachschülern obendrein Spaß macht.

Das beste wartet bei Lichess, Koordinatentraining auf Zeit und mit einem Graphen, der den eigenen Fortschritt anzeigt. Wer weniger als 30 in 30 Sekunden schafft, der hat Nachholbedarf (vielleicht mal ein Schachbuch durchackern?).

Die Bullet-Elitespieler dieser Welt schaffen mehr als 70. Viel Erfolg!

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Da Routany
Da Routany
1 Jahr zuvor

Mir ist klar, dass die Weltklasse Spieler weit, weit weg von mir sind, aber bei einem Bullet Rating von 2000 bin ich nicht ganz unbedarft, kann aber die 70 Koordinaten nicht glauben, da hier einerseits das Antizipieren wegfällt, das ja eine absolute Bedeutsamkeit beim Bullet darstellt, andererseits werden sicher gerade die Bullet Youngsters tw. Auch viel mehr online trainieren als mit Büchern. Nebenbei sieht da der Denkprozess sicher NICHT so aus: “Wenn sie/er jetzt auf d6 zieht, dann werde ich den Springer nach c4 bringen” ;))) Für Kinder ist diese Art von Training aber sicher lustig und spannend und keinesfalls… Weiterlesen »

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[…] sind junge Leute heute weniger geneigt, ein Buch in die Hand zu nehmen, um sich lesend und blätternd dem Studium zu widmen. Der Deutschlehrer in der Schule  mag das als […]

Jörg Sonnenberger
Jörg Sonnenberger
1 Jahr zuvor

Wie weit dieses Problem leider verankert ist, merkt man bei den Deutschen Meisterschaften. In Willingen werden ja sehr viele der Begegnungen live übertragen, aber ein Teil der DGT-Bretter hat keine Koordinaten. Ein Grund dafür ist, dass die Bretter dadurch drehbar sind, trotz des festen Anschlußes für Uhr und Kabel an der Seite. Der Nachteil ist natürlich, dass man “blind” schreiben können muss. Zumindest in der u10 und u12 wird deshalb Kreppband auf die Bretter geklebt und mit Hand beschriftet. Mich selber stört aber eine andere verwandte Unart fast noch mehr. Viele Trainer können selber eine Partie nicht in korrekter algebraischer… Weiterlesen »