Fällt die WM wegen des FIDE-Chaos aus? Carlsen-Manager Agdestein: “Im Moment ist nichts sicher”

Am 9. November in London soll das WM-Match zwischen Magnus Carlsen und Fabiano Caruana beginnen. Team Carlsen hat jetzt im norwegischen Rundfunk Zweifel angemeldet, ob das Match zustandekommt. Verträge mit den Spielern seien noch nicht unterzeichnet.

“Was wir sehen, ist sehr unklar”, sagte Carlsens Manager Espen Agdestein. “Ich weiß es nicht”, antwortete der Weltmeister auf die Frage, ob er ein Scheitern seiner Titelverteidigung befürchtet.

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Espen Agdestein

Carlsen und Agdestein sind alarmiert, seitdem die Schweizer Bank UBS im April die Konten des Schach-Weltverbands geschlossen hat. Weil die FIDE keine Bank findet, so lange ihr ungeliebter, aber am Amt klebender Präsident Kirsan Iljumschinow auf der US-Sanktionsliste steht, liegt ihr Geld in zwei Fonds, einer in der Schweiz, der andere in Hongkong. Reguläre Aus- und Einzahlungen sind unter diesen Bedingungen bestenfalls schwierig.

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Die Organisation des WM-Matches mit seinem siebenstelligen Preisfond und erheblichem logistischen Drumherum obliegt zwar dem Schachveranstalter Agon, aber das beruhigt Carlsen und Agdestein wenig. Auf dem Papier ist Agon unabhängig, doch insbesondere Agon-Chef Ilya Merenzon unterhält einen engen Draht zu seinem Gönner Iljumschinow. Merenzon rühmte noch dessen Wohltaten für das Schach, als das FIDE-Präsidium den Kalmücken schon einstimmig zum Rücktritt aufgefordert hatte.

Ende September wird die FIDE voraussichtlich einen neuen Präsidenten wählen. Oben auf der Agenda der potenziellen Iljumschinow-Nachfolger wird stehen, aus dem bis 2021 laufenden Vertrag mit Agon herauszukommen, das haben sowohl Nigel Short als Malcolm Pein öffentlich betont.

Aller Voraussicht nach wird also der Schach-Weltverband Ende September einen neuen Präsidenten haben. Zu dessen ersten Amtshandlungen wird zählen, die Drähte zu der Firma zu kappen, die sechs Wochen später die Schach-Weltmeisterschaft in London veranstalten soll. Kein Wunder, dass Espen Agdestein sagt: “Im Moment ist nichts sicher.”

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Das ist eben die Frage, Mister Caruana. Vielleicht sehen sie sich auch nicht, zumindest noch nicht am 9. November. (Illustration: Willum Morsch/@WillumTM)

Für Schachfans wäre eine Verschiebung des Matches ein umso größerer Jammer, als ein großer Kampf bevorsteht. Diese Prognose bestätigte jetzt beim Weltklasseturnier in Stavanger das voraussichtlich letzte Aufeinandertreffen des Champions mit dem Herausforderer vor ihrem Match.

Gleich in der ersten Runde traf Carlsen auf Caruana. Beide suchten und fanden einen komplizierten Kampf, der sich nach nur einem Fehler des Amerikaners zu Gunsten des Weltmeisters neigte. Aber während im weiteren Verlauf des Turniers Carlsen ins Trudeln geriet, drehte Caruana mächtig auf – und gewann das zweite Turnier in Folge vor Magnus Carlsen.

Caruana wird im Match gegen Carlsen getreu seinem Stil Risiko und Komplikationen suchen. Das kann natürlich nach hinten losgehen. Aber der Turnierverlauf in Norwegen zeigte einmal mehr, dass das Match nach einer verlorenen Partie für Caruana nicht vorbei wäre. Carlsen wird über die Distanz um seinen Titel kämpfen müssen.

Magnus Carlsen – Fabiano Caruana
Altibox Norway, Stavanger, 28. Mai 2018

1. e4 e5

Was wird Magnus Carlsen gegen Fabiano Caruanas zuletzt so prächtig funktionierendes Russisch tun? Eine zentrale Frage vor dem WM-Match wie vor dieser Partie.

2. Bc4

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“Russisch vermeiden” ist eine Antwort, aber kaum für die WM. Magnus Carlsen spielt gelegentlich 2.Lc4, aber viel aus der Eröffnung herausgeholt hat er damit nie. Für das Match in London (so es denn stattfindet) wird er sich etwas anderes überlegen als das eher zahnlose 2.Lc4. Es muss ja kein Italienisch daraus werden, wie Caruana sogleich demonstriert.

2… Nf6 3. d3 c6

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Die konsequente Replik. Weil Weiß mit 2.Lc4 nicht den Bauern e5 unter Druck gesetzt hat, kann Schwarz sofort per …c6 und …d5 im Zentrum aufmarschieren.

4. Nf3

(4. Qe2 versuchte Magnus Carlsen jetzt in Baden-Baden gegen Hou Yifan, gewann letztlich auch die Partie nach 61 Zügen, aber die Eröffnung verlief alles andere als erfolgreich. Den Zug …d5 verhindert Weiß auf diese Weise nicht. Nach 4…d5 5. exd5 cxd5 6. Qxe5+ Be7 hat Schwarz Kompensation für den Minusbauern.)

4… d5 5. Bb3 Bb4+

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Weil der Sb1 gerne von c3 aus auf das Zentrum einwirken möchte, provoziert Schwarz 6.c3, um dem Weißen dieses Entwicklungsfeld zu blockieren.

6. Bd2

(6. c3 ist gleichwohl spielbar. In einer Partie Carlsen-Caruana, St. Louis 2014, geriet der Weltmeister allerdings bald in Schwierigkeiten. 6… Bd6 7. Bg5 dxe4 8. dxe4 h6 9. Bh4 Qe7 10. Nbd2 Nbd7 11. Bg3 Bc7 12. O-O Nh5 13. h3 Nxg3 14. fxg3 Nc5 Schwarz steht schon deutlich angenehmer. Im Sinne der Zuschauer und auf der Suche nach praktischen Chancen entschied sich Carlsen, mit 15. Bxf7+ Verwirrung zu stiften. Es folgte eine spektakuläre Schlacht, die Caruana nach 34 Zügen für sich entschied.)

6… Bxd2+

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7. Nbxd2

Ähem, hatten wir nicht gerade festgestellt, dass der Springer auf c3 aktiver stehen und besser ins Zentrum wirken würde? Ja, aber per 7.Sbxd2 entwickelt sich Weiß schneller.

carlsen5

(7. Qxd2 nebst späterem Sc3 wäre auch sinnvoll. Caruana hat so als Anziehender 2017 in der Bundesliga gegen Pavel Tregubov gespielt, ebenso wie das chinesische Ex-Wunderkind Wei Yi 2015 gegen den chinesischen Superstar Ding Liren. Zwischen diesen beiden folgte dxe4 8. Nxe5 O-O 9. dxe4 Qe7 10. Qf4 Nh5 11. Bxf7+ Kh8 und nun muss Weiß das spektakuläre 12. Qg3! (Diagramm) finden oder kennen, um Nachteil zu vermeiden und womöglich gar von Vorteil zu träumen. Die weiterhin attackierte Dg3 ist tabu wegen 12… Nxg3?? 13. Ng6+ nebst Matt.)

7… a5

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Greift nach Raum am Damenflügel, droht …a4.

8. c3

(8. a3 mit der Idee, den Läufer auf a2 zu vergraben und langfristig Schaden auf der Diagonalen a2-g8 anzurichten, war auch möglich.)

8… Nbd7 9. exd5

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Schafft ein erstes Ungleichgewicht und vermeidet von vornherein eine nach …dxe4 dxe4 eher statische Stellung mit symmetrischer Struktur. Eine kleine Kampfansage.

9… cxd5 10. O-O O-O 11. Re1 Re8

carlsen8

12. Nf1

Aber Schwarz hat überhaupt keinen Grund zur Sorge. Der Druck auf das schwarze Zentrum ist allenfalls moderat, und Weiß sollte sich Gedanken machen, wie er verhindert, dass sein Lb3 zum Statisten degradiert oder abgeräumt wird. Sobald Schwarz …Nc5 ziehen kann, ohne dass es den e5-Bauern kostet, steht er womöglich schon besser.

12… b5

Auch das der forschestmögliche Zug, Schwarz sucht sofort ein Handgemenge. …a4 kann Weiß nicht zulassen.

(12… b6 nebst …Lb7, …Dc7 und …Sc5 war die solide Alternative.)

13. a4 b4 14. cxb4 axb4

carlsen9

In der Theorie verbucht Weiß jetzt einen gedeckten Freibauern. Aber bevor der vielleicht einmal ein Faktor in der Praxis wird, muss noch ein Mittelspiel durchgestanden werden, und in dem wird sich Schwarz Raumvorteils und freieren Spiels erfreuen, wenn dem Weißen nicht bald etwas Energisches einfällt.

15. Ne3 Bb7

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16. d4

Aha, so geht das! An dieser Stelle erst leuchtete so manchem Beobachter ein, dass der Weiße eben doch eine Idee verfolgte, anstatt sich einfach so zurückdrängen zu lassen.

(16. Nf5 Qb6 17. Qd2 Würde nur so tun, als ob Weiß irgendetwas am Königsflügel ausrichten könnte. Aktive Pläne hat hier vorerst nur der Schwarze, und die weiße Aufstellung sieht eher improvisiert als schlüssig aus.)

16… e4 17. Ne5 Nxe5 18. dxe5 Rxe5 19. Qd4

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Für den Preis eines Bauern besetzt die Dame ein prächtiges Zentralfeld. Bald werden alle weißen Figuren ideal koordiniert und mobilisiert sein. Weiß verstärkt den Druck gegen d5 und hat nebenbei b4 im Auge.

19… Re7 20. Rac1

(20. Qxb4? wäre ein Fehler, mit dem Weiß den gerade erlangten Druck an den Schwarzen abgibt. Der spielt zum Beispiel 20…Lc6 gefolgt von …Tb7 mit kräftigem Spiel gegen den weißen Damenflügel. Während der Weiße seine b2/a4-Kombo nicht mobil bekommt, hat der Schwarze mit seinem gedeckten Freibauern auf der d-Linie noch einen weiteren Trumpf im Ärmel.)

(20. Rec1 Wohin mit welchem Turm, die ewige Frage. Die Maschine mag auch 20.Tec1, um den a-Turm hinter dem Freibauern zu halten. Weiteren Druck gegen d5 entwickelt Weiß so freilich nicht. Carlsens Lösung wirkt natürlicher, aber wahrscheinlich sind beide Züge etwa gleichwertig. So oder so, Weiß hat volle Kompensation für den Minusbauern.)

20… Rd7

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21. Red1

(21. Qxb4? Nun, da der d5-Bauer von hinten zusätzlich angeschoben wird, wäre Dxb4 ein noch größerer Fehler als im Zug zuvor. Es folgt 21…d4, und Weiß hat erhebliche Schwierigkeiten.)

21… h6 22. Rc5 Ra5 23. Rxa5 Qxa5 24. h3 Kh7

Beide Seiten haben ihre Truppen ideal aufgestellt. Weiß hat Druck, Schwarz hält, und nun lässt sich für keinen der beiden eine wesentliche Verstärkung finden. Dank seiner zentralen Dame hält Weiß den Schwarzen im Klammergriff, aber sobald er den löst, indem er seine Dame zieht, rennt der schwarze Freibauer mit Macht los. Eine Partie zwischen Computern würde bald mit Zugwiederholung remis enden.

25. Rc1

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Auch das ist in der unbestechlichen Sicht der Maschine nur ein Sticheln, das sich leicht parieren ließe. Weiß zeigt an, dass ihn Ideen wie Tc5 nebst a5 oder Tb5 umtreiben.

25… Rc7?

Oberflächlich betrachtet ein logischer Zug: lässt den Weißen die offene c-Linie nicht besetzen. Aber es war notwendig, den Turm hinter dem d-Bauern zu belassen, so dass der sofort vormarschieren kann, sobald sich die weiße Dame bewegt.

(25… Qa6 wäre eine ausreichende Parade. Auf 26.Tc5 würde …De2 folgen, und Weiß darf sich einen neuen Ansatz überlegen, wie er verstärken will.)

26. Rxc7 Qxc7 27. Qxb4

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Jetzt hat Schwarz das Motiv …d4 nicht mehr, und mit einem Mal steht Weiß fast schon auf Gewinn.

27… Qc1+

Zwar kann er die weißen Truppen für eine Zeit in der Defensive binden, aber letztlich steht jetzt ein Endspiel auf dem Brett, in dem sich der Weiße zweier entfernter verbundener Freibauern erfreut. Und die werden laufen, früher oder später.

28. Bd1 Ba6 29. Qd4 Be2 30. Kh2 Bxd1 31. Nxd1 Qc7+ 32. Kg1 Qc1 33. b4

carlsen15

Wenn Schwarz nichts macht, läuft das Bauernduo einfach weiter, während die Dame auf d4 die schwarze Bauernmasse dominiert, den Vormarsch der eigenen Truppen unterstützt und zugleich die Verteidigung auf der Grundreihe zusammenhält.

33… e3

Gibt zwei Bauern, um den Springer einzubeziehen und nach Spiel zu fischen.

34. fxe3 Ne4 35. Qxd5 Nd2 36. Qf5+ Kh8 37. Qg4 f5 38. Qe2

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Aber bei Weiß hält alles zusammen, und nun hat er noch zwei Mehrbauern dazu. Caruana verteidigt sich weiter zäh, findet im weiteren Verlauf sogar noch ein paar Drohungen, aber in die Nähe einer Punkteteilung kommt er nicht mehr.

38…Ne4 39. Qe1 Qa1 40. a5 Nd6 41. Qd2 Nc4 42. Qd4 Qc1 43. Kf1 Nxe3+ 44. Qxe3 Qxd1+ 45. Kf2 Qc2+ 46. Kg3 g5 47. Qe5+ Kh7 48. Kh2 f4 49. Qd5 Qa4 50. Qf7+ Kh8 51. Qg6 Qxb4 52. Qxh6+ Kg8 53. Qxg5+ Kh7 54. Qh5+ Kg7 55. Qg5+ Kh7 56. h4 Qd6 57. Qh5+ Kg7 58. Qg5+ Kh7 59. h5 f3+ 60. g3 f2 61. Qg6+ Kh8 62. Qxd6 f1=Q 63. Qh6+ Kg8 64. Qe6+ Kh8 65. Qe3 Qb5 66. Qc3+ Kh7 67. g4 Qd5 68. Qc7+ Kg8 69. Kg3 Qe6 70. Qd8+ Kh7 71. Qd3+ Kh8 72. a6 Qe5+ 73. Kh3 Qa1 74. Qd8+ Kh7 75. Qe7+ Kh6 76. Qe3+ Kh7 77. a7

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Schwarz gab auf

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Rosana
Rosana
5 Jahre zuvor

Ob da wohl einfach irgendwer mehr Geld haben möchte als der Markt hergibt – oder die Partien dem entsprechend wert sind? Zu zeiten Fischers, Laskers und Aljechins konnte man noch keine sinistren Manager als Preistreiber vermuten, heute ist es *vielleicht* ein wenig anders. Hinzu kommt natürlich die FIDE-Misere, genauer: die Iljumi-Machenschaften – und die seines Teams. Der gesamte Aufbau dieser Sportverbands-Mafia (IOC, FIFA, DSB, …) macht es nahezu unmöglich, Änderungen des Systems zu erreichen – es sei denn, das Publikum wendete sich von ihnen ab und schaute einfach nicht mehr hin!

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[…] zwischen Magnus Carlsen und Fabiano Caruana ist wegen der misslichen Umstände im Weltschach gefährdet. Dennoch beschäftigt sich noch niemand ernsthaft damit, dass es tatsächlich ausfallen könnte. […]

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[…] Ende des Jahres, wenn die WM gespielt (hoffentlich!) und die Zeit zur Einkehr gekommen ist, werden wir uns grundsätzlich fragen, ob wir die […]

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[…] vor die Flinte bekommen könnte. Vorjahressieger Magnus Carlsen wird zwar wegen seines anstehenden WM-Kampfs in London nicht mit von der Partie sein, aber ein Preisfonds von 144.000 Pfund macht das Turnier auch für […]

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[…] und englischsprachigen Raum hat nur eine, eher unbedeutende, Schach-Website darauf hingewiesen, dass das Match auf der Kippe steht, nachdem Carlsen höchstselbst und dessen Manager Espen Agdestein öffentlich die Organisation […]

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[…] manchmal schätzen sie eine (offensichtliche!) Nachricht nicht als solche ein und schweigen – dann berichten wir. Manchmal ist auch abzusehen, dass sie erst Tage oder Wochen später berichten – wir machen […]

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[…] als Ende Mai in Stavanger bietet der der Champion seinem Herausforderer an, schon vor dem WM-Match die Debatte zu beginnen, […]

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[…] zu lesen ist. Hintergründe, Historisches, Weiterführendes, Service und gelegentlich eine Nachricht, die andere übersehen haben. Und das Blog würde zweisprachig sein müssen. Eine englische […]

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[…] stimmt schon, aber das Match war für lange Zeit nicht fix. Dennoch, London 2018 war eine gute Erfahrung. Nervlich habe ich mich viel stabiler gefühlt als […]

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[…] später stand sogar das gesamte Match infrage. Beim Schach-Weltverband FIDE ging es drunter und drüber, und Schach-Organisator Agon wäre zwar […]